Karl Lauterbachs Dissertation und sein absehbares Versagens als Gesundheitspolitiker

Karl Lauterbachs Dissertation und sein absehbares Versagens als Gesundheitspolitiker

09.01.2023 – Norbert Häring

9. 01. 2023 | Gesundheitsminister Karl Lauterbach führt den Titel eines Professors. Seine wissenschaftliche Qualifikationsarbeit zur Erlangung des Doktorgrades in Gesundheitspolitik und Gesundheitsmanagement an der Harvard School of Public Health war eine kurze Arbeit über Sozialphilosophie. Kant-Experte Thomas-Michael Seibert hat sie gelesen und zeigt in seinem Gastbeitrag, dass Lauterbachs Fehlleistungen als Gesundheitspolitiker darin bereits angelegt sind.

Thomas Michael Seibert.* Die Arbeit aus dem Jahr 1995 heißt: “Justice and the Functions of Health Care” und ist nach wie vor zugänglich. Lauterbach hat zu dieser Arbeit selbst ausgeführt, dass sie sich mit der “Anwendung des Teilhabekonzeptes des Ökonomienobelpreisträgers Amartya Sen auf eine gerechte Verteilung von Gesundheitsleistungen” befasse, wobei Sen Mitbetreuer der Arbeit gewesen sei. Offenbar soll von der Preiswürdigkeit des Betreuers ein günstiges Licht auf den Verfasser fallen, denn zu den Arbeiten Sens wird nichts Näheres ausgeführt.

Vorgelegt wurde eine Abhandlung zur Sozialphilosophie, die in 4 Kapitel gegliedert ist und zusätzlich eine Einleitung und eine Zusammenstellung von Ergebnissen (conclusion) umfasst. Sie hat – zweizeilig ausgedruckt – einen Textumfang von 100 Seiten.

Lauterbach plädiert im gesamten Text für einen allgemeinen Begriff der Gerechtigkeit, der für alle Aufgaben der Gesundheitsfürsorge gelten soll, obwohl das Problem begrenzter Mittel gesehen wird. Als Leitfaden reklamiert er im 2. Kapitel Kants Ethik, im 3. widmet er sich der Gesundheitsfürsorge als besonderem Gut angesichts knapper Mittel, im 4. stellt er die deutsche Gesundheitspolitik vor, ehe am Ende allgemein eine moralische Verpflichtung gegenüber Behinderten und Hilfsbedürftigen formuliert wird.

Insgesamt plädiert Lauterbach für die unbedingte Gewährleistung aller Grundfreiheiten und umfassende Hilfe für alle Schutzbedürftigen, ohne dass es auf bestimmte Wertvorstellungen vom Guten oder kollektive Eigeninteressen ankommen soll.

Die Arbeit ist zu kurz, um allgemein ein moralisches Konzept für die öffentliche Gesundheitsfürsorge zu begründen, und ihr fehlt die kritische Auseinandersetzung mit anderen Thesen und Konzepten. Dabei weist sie eine Reihe von formalen Fehlern auf.

In einer Qualifikationsarbeit sollte man zeigen, dass man mit wissenschaftlicher Literatur und Hypothesenbildung zum Thema vertraut ist. Dazu gehören textgenaue Zitate der einbezogenen Arbeiten. Man findet sie in der vorgelegten Arbeit an keiner Stelle. Lauterbach präsentiert ausschließlich Blankettzitate der Art “Kant (1788)” oder “Sen (1994)”, ohne Seitenzahlen zu nennen, und zwar selbst dort, wo er mit Anführungszeichen wörtlich zitiert.

Zu den formalen Anfängerfehlern gehört es, Klassiker der Philosophie und Theorie aus zweiter Hand zu zitieren. So verfährt Lauterbach mit Kant. Er übernimmt drei inhaltliche Fassungen des kategorischen Imperativs von Sullivan mit dem Bemerken, es sei für seine Arbeitszwecke unwichtig, ob die drei Formulierungen von Sullivan genau mit Kant verträglich seien oder nicht und welche Grenzen sie vielleicht hätten (S. 25).

Unter diesen Voraussetzungen hätte man auf Kant auch ganz verzichten können, zumal Lauterbach entgeht, dass der kategorische Imperativ als ein individuelles, monologisches Kriterium, das dem Indivuduum eine Richtschnur geben kann, zu entscheiden, was aus seiner Sicht richtig ist, ohne Rückkopplung (Dialog) mit den Wertvorstellungen der betroffenen Mitmenschen, für seine Zwecke sehr problematisch ist. Der Verfasser hätte fragen müssen, inwiefern die Konzeption individueller kategorischer Imperative zur Begründung einer öffentlichen Gesundheitsvorsorge überhaupt sinnvoll und geeignet ist. Das öffentliche Gesundheitswesen sollte nicht den Wertvorstellungen eines Menschen entsprechen, sondern die Werte, denen es gehorchen soll, müssen im Dialog der Betroffenen oder deren Delegierter gefunden werden.

Lauterbach versäumt es in der gesamten Arbeit, zwischen “Prinzip” und “Maxime” im kantischen Sinne zu unterscheiden. Moralität im Prinzip zu begründen ist nicht schwer, sodass Lauterbach daran auch an keiner Stelle zweifelt. Die kantische Prüfung setzt aber bei fallbezogenen Maximen ein, für die er auch auf Leben und Gesundheit bezogene Beispiele gibt, etwa mit folgender Maxime aus der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten:

“Einer, der durch eine Reihe von Übeln, die bis zur Hoffnungslosigkeit angewachsen ist, einen Überdruß am Leben empfindet, ist noch so weit im Besitze seiner Vernunft, daß er sich selbst fragen kann, ob es auch nicht etwa der Pflicht gegen sich selbst zuwider sei, sich das Leben zu nehmen.”
(Kant, Grundlegg. BA 54).”

Das Beispiel ist insofern aufschlussreich, als es das inzwischen auch in Deutschland anerkannte Recht auf selbstbestimmtes Sterben (BVerfGE 153, 182 mit Urteil vom 26.2.2020) mit dem moralischen Imperativ des unbedingten Lebens konfrontiert. Denn Grundsätze der Moral sind keineswegs aus sich selbst heraus und wegen der Berufung auf Kant gleichzeitig auch Rechtsgrundsätze. Zwischen beiden besteht ein qualititativer Unterschied, den Kant sehr wohl kannte und in der Metaphysik der Sitten als Einleitung in die Rechtslehre zur Abgrenzung zwischen ius strictum und ius latum (Kant, MdS BA 36-39) benutzt hat, also zwischen kategorisch verpflichtendem, jenseits gesetzlicher Einzelnormen bindenden Grundsätzen und dem wuchernden, abänderlichen, politischen Recht des Tages.

Lauterbach kennt den Unterschied nicht, sieht auch nicht den Zusammenhang zwischen Sozial- und Rechtsphilosophie und häuft Sätze an, aus denen ein gutes Herz spricht – aber nicht mehr. Für eine öffentliche Gesundheitspolitik angesichts knapper Mittel reicht eine solche Abhandlung in keiner Weise aus. Sie war auch im Jahre 1995 so nicht brauchbar und hätte zwingend überarbeitet werden müssen.
Kant wirkt anders auf die praktische und politische Vernunft – wenn man ihn liest und nicht aus zweiter, amerikanischer Hand zitiert, und wenn ausgerechnet ein deutscher Forscher dies tut, erscheint es besonders peinlich.

Folgenreich wurde dieses wissenschaftliche Versagen des Karl Lauterbach in der deutschen Gesundheitspolitik seit dem Jahre 2020: Mit welcher moralischen Legitimation wurde einem alten Menschen, der das Risiko des Todes akzeptiert von Staats wegen im Rechtssatz verboten, in Kontakt mit Menschen zu treten, selbst wenn sie das Risiko des Todes steigern sollten? Hätte Lauterbach ordentlich mit Kant zu arbeiten gelernt, hätte er sehen können, warum hier keine Rechtspflichten begründet werden dürfen. Hätte er gelernt mit Kant zu argumentieren, hätte er auch die Berufung auf einen kategorischen Imperativ unterlassen, der Menschen im Wege der Rechtspflicht zum Objekt einer staatlichen Impfpflicht machen sollte.

lauterbach-rede-impfpflicht-kant
Lauterbach am 13.1.2022 im Bundestag mit Kant für allgemeine Impfpflicht (ab Min 1 auf youtube mit dessen Nutzungsbedingungen)

“Die Impfpflicht ist medizinisch geeignet. Die Frage ist, ist sie auch moralisch zu vertreten?

Aus meiner Sicht kann man es wie folgt bewerten:

Wer sich dem Impfangebot verweigert, verletzt sogar das moralische Gebot des kategorischen Imperativs im Sinne von Emanuel Kant. Eine solche Verweigerung könnte nie die Maxime des Handelns für uns alle sein. Wenn wir uns alle weigern würden, die gut erforschte und nebenwirkungsarme Impfung zu nutzen, um uns selbst und andere vor Tod und schwerer Krankheit zu schützen, würden wir die Pandemie wahrscheinlich nie beenden können.”

*Thomas-Michael Seibert, Frankfurt, ist seit 1999 Honorarprofessor am Fachbereich Rechtswissenschaft der Goethe-Universität. Er war bis 2011 Richter in Frankfurt und hat Arbeiten zur Rechts- und Sozialphilosophie verfasst, zuletzt: “Die Lehre vom Rechtszeichen”, in deren III. Kapitel Näheres zur normativen Bedeutung Kants ausgeführt ist.

Zugabe von Norbert Häring

Für alle, die des Englischen nicht mächtig sind, oder nur eine zentrale Passage der Dissertation als Stilprobe lesen möchten,  hier in eigener Übersetzung eine Passage aus Lauterbachs zweiten Kapitel zum Kantschen Imperativ:

“Kant präsentierte drei verschiedene Formulierungen des kategorischen Imperativs, den er als die einzige soziale Norm betrachtete, die alle Menschen befolgen müssen (Kant 1788). Alle drei drücken dieselbe Idee aus, wenn auch mit unterschiedlicher Betonung. Die folgende Präsentation ist adaptiert von Sullivan (Sullivan 1994):

Formel 1: Formel der Autonomie: “Ich sollte nie auf eine Weise handeln, von der ich nicht wollen könnte, dass meine Maxime universelles Gesetz ist.”

Formel 2: Formel des Respekts für die Würde der Person: “Handle so, dass du die Menschheit, ob in deiner eigenen Person oder in der eines Anderen, immer als Zweck behandelst, nie nur als Mittel zum Zweck.”

(…)

Für Zwecke meiner Diskussion ist es nicht wichtig, ob die drei Formulierungen vollständig miteinander kompatibel sind, oder was die Grenzen ihrer Anwendbarkeit sind. Stattdessen will ich hervorheben, welche Schlüsselideen hinter ihnen stehen und diese auf die Frage der Gesundheitsversorgung anwenden.

Die erste Formulierung (…) ist besonders wichtig für die Rechtfertigung der negativen Rechte, die jedes menschliche Wesen genießen sollte, wie Freiheit von Schaden und Einmischung. Aber die erste Formulierung (…) ist auch eine zwingende Grundlage für die Grundrechte, die Menschen in jeder Gesellschaft haben, und eine Zurückweisung libertären Denkens, das solche Grundrechte verneint. Das Argument lautet, dass ein Prinzip des Nicht-Wohlwollens (nonbenevolence) keine Maxime werden kann, die man als universelles Gesetzt wollen könnte. Denn es ist Teil des menschlichen Wesens, dass wir verletzlich sind gegenüber Krankheiten, Unfällen, Verarmung und vielen anderen Bedrohungen für unsere Selbstbestimmung (agency) als rationale Wesen. Wir können im Prinzp zu jeder Zeit abhängig von der Hilfe anderer werden, um irgendein rationales Ziel verfolgen zu können, und würden dann wollen, dass uns andere helfen. …”

Mehr

Lesen Sie zur Berufung Lauterbachs auf Kant in Sachen Impfpflicht auch die Kritik des Arztes und langjährigen Gesundheitspolitikers Lothar Krimmel auf Tichys Einblick: “Lauterbach dreht Kant im Grabe herum” , sowie zum Lügenbaron und Lobbyisten Lauterbach auf diesem Blog:

Lauterbach schreckt bei seiner nebenberuflichen Pharmavertretertätigkeit für Pfizer vor nichts mehr zurück
26. 08. 2022 | Der Gesundheitsminister bestellt nicht nur viel zu viele Impfstoffe und Paxlovid, wirbt öffentlich damit, dass er Paxlovid ohne Indikation einnimmt, und bezahlt Ärzte dafür, dass sie Paxlovid verschreiben. Nun lässt sein Ministerium sogar allen positiv Getesteten und ihren Ärzten eine behördliche Paxlovid-Empfehlung zukommen, ohne jeden Warnhinweis.

Das überaus seltsame Verständnis des Lauterbach-Ministeriums von Rechtsstaat und Demokratie
16. 02. 2022 | Wenn es nach dem geht, was Gesundheitsminister Karl Lauterbach seine Anwälte in meinem Verfahren gegen das Paul-Ehrlich-Institut argumentieren lässt, haben Bürger praktisch keine Rechtsmittel gegen seine Willkürentscheidungen. Außerdem haben demnach alle außer ihm gewusst, dass das Robert-Koch-Institut die Dauer des Genesenenstatus umgehend drastisch verkürzen würde. Lauterbach lügt – mal wieder.

Wiedervorlage: Was wurde aus Karl Lauterbachs Januar-Prognosen
14. 02.2022 | Am 20. Januar hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach bei einer Telekonferenz mit den Staatskanzleichefs von Bund und Ländern nach übereinstimmenden, nicht dementierten Medienberichten für Mitte Februar 400.000 bis 600.000 Infektionen pro Tag und einen Anstieg der Anzahl der Covid-Patienten auf Intensivstationen prognostiziert. Wir haben Mitte Februar. Was ist daraus geworden?

Lauterbach ist ein Lügner und die SPD-Fraktion besteht aus Heuchlern
7. 10.2021 | Man kann es kaum weniger deutlich sagen, ohne zu verharmlosen. Am 6. Oktober war bei Maischberger zu sehen, wie Karl Lauterbach eine dreiste Lüge vor Millionenpublikum wiederholte und dabei erwischt wurde, und wie die gesamte Fraktion einer Regierungspartei sich einen feuchten Kehricht um die Regeln schert, die diese Regierung dem ganzen Volk unter Androhung von Strafen auferlegt hat.

Die wissenschaftsfeindlichen Kapriolen Lauterbachs sind symptomatisch für die Corona-Politik
15. 09.2021 | Erst drängt Karl Lauterbach auf den Ausschluss nichtgeimpfter Menschen vom öffentlichen Leben (2G) weil diese sonst die Geimpften und andere Ungeimpfte gefährden würden. Ein paar Tage später dreht er aufgrund neuer Erkenntnisse die Argumentation einfach um 180-Grad, mit dem gleichen Ergebnis.

Karl Lauterbach widerspricht sich nun schon im Minutentakt (mit Nachtrag zu seiner Hinterhältigkeit und dem perfiden Plan Hamburgs)
23. 08. 2021 | Bei Maischberger fiel Karl Lauterbach kürzlich noch dadurch auf, dass er mit voller Überzeugung das Gegenteil dessen sagte, was er am Vortag mit voller Überzeugung gesagt hatte. Inzwischen widerspricht er sich im Minutentakt. Unzulässige Grundrechtseinschränkungen will er auf dem Umweg über Private durchsetzen.

Zur Erinnerung: Lauterbach, dem Schikane Ungeimpfter nicht weit genug geht, die Staubsaugerbeutel und die UEFA< 11. 08. 2021 | SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach geht der am 11. August beschlossene Ausschluss geringverdienender Ungeimpfter vom öffentlichen Leben nicht weit genug. Alle Ungeimpften sollen von bestimmten Veranstaltungen ausgeschlossen werden. Daher zur Erinnerung, womit er sein seuchenpolitisches Renommee erarbeitet hat./a>

Karl Lauterbachs Dissertation und sein absehbares Versagens als Gesundheitspolitiker

09.01.2023 – Norbert Häring

9. 01. 2023 | Gesundheitsminister Karl Lauterbach führt den Titel eines Professors. Seine wissenschaftliche Qualifikationsarbeit zur Erlangung des Doktorgrades in Gesundheitspolitik und Gesundheitsmanagement an der Harvard School of Public Health war eine kurze Arbeit über Sozialphilosophie. Kant-Experte Thomas-Michael Seibert hat sie gelesen und zeigt in seinem Gastbeitrag, dass Lauterbachs Fehlleistungen als Gesundheitspolitiker darin bereits angelegt sind.

Thomas Michael Seibert.* Die Arbeit aus dem Jahr 1995 heißt: “Justice and the Functions of Health Care” und ist nach wie vor zugänglich. Lauterbach hat zu dieser Arbeit selbst ausgeführt, dass sie sich mit der “Anwendung des Teilhabekonzeptes des Ökonomienobelpreisträgers Amartya Sen auf eine gerechte Verteilung von Gesundheitsleistungen” befasse, wobei Sen Mitbetreuer der Arbeit gewesen sei. Offenbar soll von der Preiswürdigkeit des Betreuers ein günstiges Licht auf den Verfasser fallen, denn zu den Arbeiten Sens wird nichts Näheres ausgeführt.

Vorgelegt wurde eine Abhandlung zur Sozialphilosophie, die in 4 Kapitel gegliedert ist und zusätzlich eine Einleitung und eine Zusammenstellung von Ergebnissen (conclusion) umfasst. Sie hat – zweizeilig ausgedruckt – einen Textumfang von 100 Seiten.

Lauterbach plädiert im gesamten Text für einen allgemeinen Begriff der Gerechtigkeit, der für alle Aufgaben der Gesundheitsfürsorge gelten soll, obwohl das Problem begrenzter Mittel gesehen wird. Als Leitfaden reklamiert er im 2. Kapitel Kants Ethik, im 3. widmet er sich der Gesundheitsfürsorge als besonderem Gut angesichts knapper Mittel, im 4. stellt er die deutsche Gesundheitspolitik vor, ehe am Ende allgemein eine moralische Verpflichtung gegenüber Behinderten und Hilfsbedürftigen formuliert wird.

Insgesamt plädiert Lauterbach für die unbedingte Gewährleistung aller Grundfreiheiten und umfassende Hilfe für alle Schutzbedürftigen, ohne dass es auf bestimmte Wertvorstellungen vom Guten oder kollektive Eigeninteressen ankommen soll.

Die Arbeit ist zu kurz, um allgemein ein moralisches Konzept für die öffentliche Gesundheitsfürsorge zu begründen, und ihr fehlt die kritische Auseinandersetzung mit anderen Thesen und Konzepten. Dabei weist sie eine Reihe von formalen Fehlern auf.

In einer Qualifikationsarbeit sollte man zeigen, dass man mit wissenschaftlicher Literatur und Hypothesenbildung zum Thema vertraut ist. Dazu gehören textgenaue Zitate der einbezogenen Arbeiten. Man findet sie in der vorgelegten Arbeit an keiner Stelle. Lauterbach präsentiert ausschließlich Blankettzitate der Art “Kant (1788)” oder “Sen (1994)”, ohne Seitenzahlen zu nennen, und zwar selbst dort, wo er mit Anführungszeichen wörtlich zitiert.

Zu den formalen Anfängerfehlern gehört es, Klassiker der Philosophie und Theorie aus zweiter Hand zu zitieren. So verfährt Lauterbach mit Kant. Er übernimmt drei inhaltliche Fassungen des kategorischen Imperativs von Sullivan mit dem Bemerken, es sei für seine Arbeitszwecke unwichtig, ob die drei Formulierungen von Sullivan genau mit Kant verträglich seien oder nicht und welche Grenzen sie vielleicht hätten (S. 25).

Unter diesen Voraussetzungen hätte man auf Kant auch ganz verzichten können, zumal Lauterbach entgeht, dass der kategorische Imperativ als ein individuelles, monologisches Kriterium, das dem Indivuduum eine Richtschnur geben kann, zu entscheiden, was aus seiner Sicht richtig ist, ohne Rückkopplung (Dialog) mit den Wertvorstellungen der betroffenen Mitmenschen, für seine Zwecke sehr problematisch ist. Der Verfasser hätte fragen müssen, inwiefern die Konzeption individueller kategorischer Imperative zur Begründung einer öffentlichen Gesundheitsvorsorge überhaupt sinnvoll und geeignet ist. Das öffentliche Gesundheitswesen sollte nicht den Wertvorstellungen eines Menschen entsprechen, sondern die Werte, denen es gehorchen soll, müssen im Dialog der Betroffenen oder deren Delegierter gefunden werden.

Lauterbach versäumt es in der gesamten Arbeit, zwischen “Prinzip” und “Maxime” im kantischen Sinne zu unterscheiden. Moralität im Prinzip zu begründen ist nicht schwer, sodass Lauterbach daran auch an keiner Stelle zweifelt. Die kantische Prüfung setzt aber bei fallbezogenen Maximen ein, für die er auch auf Leben und Gesundheit bezogene Beispiele gibt, etwa mit folgender Maxime aus der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten:

“Einer, der durch eine Reihe von Übeln, die bis zur Hoffnungslosigkeit angewachsen ist, einen Überdruß am Leben empfindet, ist noch so weit im Besitze seiner Vernunft, daß er sich selbst fragen kann, ob es auch nicht etwa der Pflicht gegen sich selbst zuwider sei, sich das Leben zu nehmen.”
(Kant, Grundlegg. BA 54).”

Das Beispiel ist insofern aufschlussreich, als es das inzwischen auch in Deutschland anerkannte Recht auf selbstbestimmtes Sterben (BVerfGE 153, 182 mit Urteil vom 26.2.2020) mit dem moralischen Imperativ des unbedingten Lebens konfrontiert. Denn Grundsätze der Moral sind keineswegs aus sich selbst heraus und wegen der Berufung auf Kant gleichzeitig auch Rechtsgrundsätze. Zwischen beiden besteht ein qualititativer Unterschied, den Kant sehr wohl kannte und in der Metaphysik der Sitten als Einleitung in die Rechtslehre zur Abgrenzung zwischen ius strictum und ius latum (Kant, MdS BA 36-39) benutzt hat, also zwischen kategorisch verpflichtendem, jenseits gesetzlicher Einzelnormen bindenden Grundsätzen und dem wuchernden, abänderlichen, politischen Recht des Tages.

Lauterbach kennt den Unterschied nicht, sieht auch nicht den Zusammenhang zwischen Sozial- und Rechtsphilosophie und häuft Sätze an, aus denen ein gutes Herz spricht – aber nicht mehr. Für eine öffentliche Gesundheitspolitik angesichts knapper Mittel reicht eine solche Abhandlung in keiner Weise aus. Sie war auch im Jahre 1995 so nicht brauchbar und hätte zwingend überarbeitet werden müssen.
Kant wirkt anders auf die praktische und politische Vernunft – wenn man ihn liest und nicht aus zweiter, amerikanischer Hand zitiert, und wenn ausgerechnet ein deutscher Forscher dies tut, erscheint es besonders peinlich.

Folgenreich wurde dieses wissenschaftliche Versagen des Karl Lauterbach in der deutschen Gesundheitspolitik seit dem Jahre 2020: Mit welcher moralischen Legitimation wurde einem alten Menschen, der das Risiko des Todes akzeptiert von Staats wegen im Rechtssatz verboten, in Kontakt mit Menschen zu treten, selbst wenn sie das Risiko des Todes steigern sollten? Hätte Lauterbach ordentlich mit Kant zu arbeiten gelernt, hätte er sehen können, warum hier keine Rechtspflichten begründet werden dürfen. Hätte er gelernt mit Kant zu argumentieren, hätte er auch die Berufung auf einen kategorischen Imperativ unterlassen, der Menschen im Wege der Rechtspflicht zum Objekt einer staatlichen Impfpflicht machen sollte.

lauterbach-rede-impfpflicht-kant
Lauterbach am 13.1.2022 im Bundestag mit Kant für allgemeine Impfpflicht (ab Min 1 auf youtube mit dessen Nutzungsbedingungen)

“Die Impfpflicht ist medizinisch geeignet. Die Frage ist, ist sie auch moralisch zu vertreten?

Aus meiner Sicht kann man es wie folgt bewerten:

Wer sich dem Impfangebot verweigert, verletzt sogar das moralische Gebot des kategorischen Imperativs im Sinne von Emanuel Kant. Eine solche Verweigerung könnte nie die Maxime des Handelns für uns alle sein. Wenn wir uns alle weigern würden, die gut erforschte und nebenwirkungsarme Impfung zu nutzen, um uns selbst und andere vor Tod und schwerer Krankheit zu schützen, würden wir die Pandemie wahrscheinlich nie beenden können.”

*Thomas-Michael Seibert, Frankfurt, ist seit 1999 Honorarprofessor am Fachbereich Rechtswissenschaft der Goethe-Universität. Er war bis 2011 Richter in Frankfurt und hat Arbeiten zur Rechts- und Sozialphilosophie verfasst, zuletzt: “Die Lehre vom Rechtszeichen”, in deren III. Kapitel Näheres zur normativen Bedeutung Kants ausgeführt ist.

Zugabe von Norbert Häring

Für alle, die des Englischen nicht mächtig sind, oder nur eine zentrale Passage der Dissertation als Stilprobe lesen möchten,  hier in eigener Übersetzung eine Passage aus Lauterbachs zweiten Kapitel zum Kantschen Imperativ:

“Kant präsentierte drei verschiedene Formulierungen des kategorischen Imperativs, den er als die einzige soziale Norm betrachtete, die alle Menschen befolgen müssen (Kant 1788). Alle drei drücken dieselbe Idee aus, wenn auch mit unterschiedlicher Betonung. Die folgende Präsentation ist adaptiert von Sullivan (Sullivan 1994):

Formel 1: Formel der Autonomie: “Ich sollte nie auf eine Weise handeln, von der ich nicht wollen könnte, dass meine Maxime universelles Gesetz ist.”

Formel 2: Formel des Respekts für die Würde der Person: “Handle so, dass du die Menschheit, ob in deiner eigenen Person oder in der eines Anderen, immer als Zweck behandelst, nie nur als Mittel zum Zweck.”

(…)

Für Zwecke meiner Diskussion ist es nicht wichtig, ob die drei Formulierungen vollständig miteinander kompatibel sind, oder was die Grenzen ihrer Anwendbarkeit sind. Stattdessen will ich hervorheben, welche Schlüsselideen hinter ihnen stehen und diese auf die Frage der Gesundheitsversorgung anwenden.

Die erste Formulierung (…) ist besonders wichtig für die Rechtfertigung der negativen Rechte, die jedes menschliche Wesen genießen sollte, wie Freiheit von Schaden und Einmischung. Aber die erste Formulierung (…) ist auch eine zwingende Grundlage für die Grundrechte, die Menschen in jeder Gesellschaft haben, und eine Zurückweisung libertären Denkens, das solche Grundrechte verneint. Das Argument lautet, dass ein Prinzip des Nicht-Wohlwollens (nonbenevolence) keine Maxime werden kann, die man als universelles Gesetzt wollen könnte. Denn es ist Teil des menschlichen Wesens, dass wir verletzlich sind gegenüber Krankheiten, Unfällen, Verarmung und vielen anderen Bedrohungen für unsere Selbstbestimmung (agency) als rationale Wesen. Wir können im Prinzp zu jeder Zeit abhängig von der Hilfe anderer werden, um irgendein rationales Ziel verfolgen zu können, und würden dann wollen, dass uns andere helfen. …”

Mehr

Lesen Sie zur Berufung Lauterbachs auf Kant in Sachen Impfpflicht auch die Kritik des Arztes und langjährigen Gesundheitspolitikers Lothar Krimmel auf Tichys Einblick: “Lauterbach dreht Kant im Grabe herum” , sowie zum Lügenbaron und Lobbyisten Lauterbach auf diesem Blog:

Lauterbach schreckt bei seiner nebenberuflichen Pharmavertretertätigkeit für Pfizer vor nichts mehr zurück
26. 08. 2022 | Der Gesundheitsminister bestellt nicht nur viel zu viele Impfstoffe und Paxlovid, wirbt öffentlich damit, dass er Paxlovid ohne Indikation einnimmt, und bezahlt Ärzte dafür, dass sie Paxlovid verschreiben. Nun lässt sein Ministerium sogar allen positiv Getesteten und ihren Ärzten eine behördliche Paxlovid-Empfehlung zukommen, ohne jeden Warnhinweis.

Das überaus seltsame Verständnis des Lauterbach-Ministeriums von Rechtsstaat und Demokratie
16. 02. 2022 | Wenn es nach dem geht, was Gesundheitsminister Karl Lauterbach seine Anwälte in meinem Verfahren gegen das Paul-Ehrlich-Institut argumentieren lässt, haben Bürger praktisch keine Rechtsmittel gegen seine Willkürentscheidungen. Außerdem haben demnach alle außer ihm gewusst, dass das Robert-Koch-Institut die Dauer des Genesenenstatus umgehend drastisch verkürzen würde. Lauterbach lügt – mal wieder.

Wiedervorlage: Was wurde aus Karl Lauterbachs Januar-Prognosen
14. 02.2022 | Am 20. Januar hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach bei einer Telekonferenz mit den Staatskanzleichefs von Bund und Ländern nach übereinstimmenden, nicht dementierten Medienberichten für Mitte Februar 400.000 bis 600.000 Infektionen pro Tag und einen Anstieg der Anzahl der Covid-Patienten auf Intensivstationen prognostiziert. Wir haben Mitte Februar. Was ist daraus geworden?

Lauterbach ist ein Lügner und die SPD-Fraktion besteht aus Heuchlern
7. 10.2021 | Man kann es kaum weniger deutlich sagen, ohne zu verharmlosen. Am 6. Oktober war bei Maischberger zu sehen, wie Karl Lauterbach eine dreiste Lüge vor Millionenpublikum wiederholte und dabei erwischt wurde, und wie die gesamte Fraktion einer Regierungspartei sich einen feuchten Kehricht um die Regeln schert, die diese Regierung dem ganzen Volk unter Androhung von Strafen auferlegt hat.

Die wissenschaftsfeindlichen Kapriolen Lauterbachs sind symptomatisch für die Corona-Politik
15. 09.2021 | Erst drängt Karl Lauterbach auf den Ausschluss nichtgeimpfter Menschen vom öffentlichen Leben (2G) weil diese sonst die Geimpften und andere Ungeimpfte gefährden würden. Ein paar Tage später dreht er aufgrund neuer Erkenntnisse die Argumentation einfach um 180-Grad, mit dem gleichen Ergebnis.

Karl Lauterbach widerspricht sich nun schon im Minutentakt (mit Nachtrag zu seiner Hinterhältigkeit und dem perfiden Plan Hamburgs)
23. 08. 2021 | Bei Maischberger fiel Karl Lauterbach kürzlich noch dadurch auf, dass er mit voller Überzeugung das Gegenteil dessen sagte, was er am Vortag mit voller Überzeugung gesagt hatte. Inzwischen widerspricht er sich im Minutentakt. Unzulässige Grundrechtseinschränkungen will er auf dem Umweg über Private durchsetzen.

Zur Erinnerung: Lauterbach, dem Schikane Ungeimpfter nicht weit genug geht, die Staubsaugerbeutel und die UEFA< 11. 08. 2021 | SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach geht der am 11. August beschlossene Ausschluss geringverdienender Ungeimpfter vom öffentlichen Leben nicht weit genug. Alle Ungeimpften sollen von bestimmten Veranstaltungen ausgeschlossen werden. Daher zur Erinnerung, womit er sein seuchenpolitisches Renommee erarbeitet hat./a>

Verwandte Beiträge