Leseprobe aus meinem Vorwort zur Taschenbuchausgabe von Endspiel des Kapitalismus

Leseprobe aus meinem Vorwort zur Taschenbuchausgabe von Endspiel des Kapitalismus

29.11.2022 – Norbert Häring

29. 11. 2022 | Der Spiegel Bestseller „Endspiel des Kapitalismus – Wie die Konzerne die Macht übernahmen, und wie wir sie zurückholen“ ist nun auch als Taschenbuchausgabe für 14 Euro erhältlich. Sie beinhaltet ein neues 17-seitiges Vorwort. Darin rekapituliere ich, was seit Abschluss des Manuskripts Mitte 2021 geschehen ist, und analysiere die Desorientierung vieler derjenigen, die den Glauben an das heutige System verloren haben und es reformieren wollen, die dabei aber die ideologische Basis dieses Systems so tief verinnerlicht haben, dass ihre Reformbemühungen ins Leere laufen. Hier ein Auszug aus diesem Vorwort.

Vorwort zur Taschenbuchausgabe (Auszug)

Rund 15 Monate, nachdem ich das Manuskript für die gebundene Ausgabe vom Endspiel des Kapitalismus abgeschlossen habe, bin ich beinahe schockiert von der Schnelligkeit, mit der sich die Dinge seither in Richtung des skizzierten Szenarios einer neo-feudalistischen Ordnung weiterentwickelt haben. (..)

Geopolitik des Endspiels

Die radikale Trennung der wirtschaftlichen Sphären von USA und China, die ich im Exkurs „Geopolitik des Endspiels“ voraussagte, ist eindrucksvoll vorangetrieben worden. Dabei war zu entscheiden, auf welcher Seite des neuen eisernen Vorhangs Russland liegen sollte. Aus US-Sicht stand die Antwort schon lange fest. Denn eine enge Kooperation des rohstoffreichen Russlands mit dem technologiereichen Europa zu verhindern, ist seit Jahrzehnten ein zentrales Anliegen Washingtons. Der Wirtschafts- und Energiekrieg mit Russland dürfte die europäische Wirtschaft so sehr schwächen, dass die EU der Vorherrschaft der USA mit ihrer verfallenden Infrastruktur und ausgehöhlten industriellen Basis nicht gefährlich werden kann.(…)

Verfall der wirtschaftlichen Basis

Der Verfall der Infrastruktur und die Aushöhlung der industriellen Basis gehen nun auch bei uns immer schneller voran. Durch Privatisierung staatlicher Aufgaben bei Infrastruktur, Wasser- und Energieversorgung, Wohnen, Gesundheit und Bildung sowie jetzt zusätzlich durch die Umlenkung staatlicher Ausgaben zum Militär und durch die exorbitant steigenden Energiepreise werden Deutschland und Europa immer mehr zu Hochkosten-Standorten. Denn die Gewinne der Profiteure müssen die produzierenden Betriebe mit höheren Steuern und Löhnen bezahlen, die Kosten der unzureichenden Infrastruktur müssen sie ertragen oder teuer ausgleichen.

Anstatt die Infrastruktur zu sanieren, steckt Deutschland auf Druck der USA 100 Milliarden Euro zusätzlich in Rüstung. Geld, das zu einem großen Teil für den Kauf von in Dollar bezahlten Rüstungsgütern ausgegeben wird. So wird der Dollar gestützt, dem Ungemach droht, weil Länder wie China und Russland nicht mehr wie bisher ihre Exportüberschüsse in den Kauf von US-Staatsanleihen investieren. Seit die USA und Europa die so angelegten russischen Währungsreserven einfach einkassiert haben, kommt das nicht mehr infrage.

Unter diesen widrigen Bedingungen für die Produktion verlegen sich die Konzerne noch mehr auf die Manipulation der Aktienkurse, statt in die Produktion zu investieren: „Konzerne kaufen so viele eigene Aktien zurück wie noch nie – und beschenken damit Aktionäre“, lautete eine Aufmacher-Überschrift des Handelsblatts am 9. August 2022. (..)

Die ideologische Basis des Kapitalismus zerfällt

Die Menschen fühlen sehr deutlich, dass etwas megafaul ist. Das ist der gute Teil der Nachricht. Denn ohne dass eine Mehrheit vom Glauben an das System und die Alternativlosigkeit des Kapitalismus abfällt, wird es keinen grundlegenden Wandel geben. (…)

Der unangenehme Teil der Nachricht ist, dass der Zerfall der ideologischen Basis des alten Systems stattfindet, ohne dass es eine weithin akzeptierte neue Erzählung, eine konkurrierende Weltsicht gäbe, auf die eine gemeinsame Vorstellung einer besseren Gesellschaft gegründet werden könnte. Vielmehr tobt nun der Kampf um die Durchsetzung einer solchen neuen Weltsicht.

Da setzt sich die Großkonzernlobby Weltwirtschaftsforum an die Spitze der Umweltschutzbewegung und will per „Großem Neustart“ (Great Reset) eine Welt auf seine Weise retten, die eben diese Konzerne an den Rand des Zusammenbruchs gebracht haben. Das soll mit Maßnahmen geschehen, die dem alten Modell entsprechen und den Konzernen zupasskommen. Mit technischen Großlösungen soll die Erderwärmung aufgehalten werden. Mit marktwirtschaftlicher Zuteilung von Emissions- und Energienutzungsrechten sollen diejenigen, die das meiste Geld haben, möglichst wirtschaften und konsumieren können wie bisher. (…)

Das sind Zeichen um sich greifender Orientierungslosigkeit, die einsetzen muss, wenn Menschen versuchen, mit Rezepten, die auf dem gescheiterten alten Weltbild beruhen, eine neue Welt zu bauen.

Von oben wird diese Orientierungslosigkeit nach Kräften befeuert, mit der durchaus erwünschten Folge, dass die Fronten in der öffentlichen Diskussion völlig durcheinandergeraten. Kritik am Weltwirtschaftsforum und der Heuchelei der Konzerne gilt denen, die sich für links oder progressiv halten, inzwischen als „rechts“. Von Liberal-Konservativen wird dagegen ausgerechnet dem Weltwirtschaftsforum mit seinem Great Reset und den Konzernen skurriler Weise ein Hang zum Kommunismus unterstellt, wo diese in Wahrheit eine neue Form des Feudalismus vorantreiben. Der verbliebenen Minderheit klassenbewusster, traditioneller Linker wird von der einen Seite unterstellt, rechts zu sein, von der anderen, dem Kommunismus zu huldigen. (…)

Wie ein Umsteuern nicht gelingt

Wenn wir das gegenwärtige Wirtschafts- und Gesellschaftssystem überwinden wollen, ist es wichtig, sich klarzumachen, welche die tiefer liegenden Bestandteile der Erzählung sind, auf die sich dieses System bisher gestützt hat. Wenn wir nämlich bei unseren Reformbemühungen unbewusst auf problematischen Elementen der alten Erzählung aufbauen, schaffen wir am Ende, selbst im Erfolgsfall, doch wieder nur ein System mit den gleichen Mängeln.

Zentral für das alte System ist das Menschen- und Weltbild, dass wir als Individuen im Großen und Ganzen allein und getrennt sind auf dieser Welt. Getrennt von unseren Mitmenschen, getrennt von der belebten und „unbelebten“ Natur um uns herum. Derart auf sich selbst gestellt, sucht der Mensch sein Überleben zu sichern, indem er sich die Natur unterwirft und sich innerhalb der Gesellschaft nach oben kämpft. Er findet sich zu Familien, Kommunen und ganzen Gesellschaften zusammen, aber das ist nur der Notwendigkeit und dem gegenseitigen Vorteil geschuldet. Kein Vorteil, keine Kooperation, lautet die Annahme.

Statt den Menschen als Teil der Natur zu sehen und ihn auch über seine Rolle in der Natur zu definieren, wird die Natur ausschließlich in einer dienenden Funktion für den Menschen gesehen. Nur was dem Menschen dient hat eine Daseinsberechtigung und ist schützenswert.

Dasselbe gilt für den Menschen als Teil der Gesellschaft. Zwischen ihm und der Gesellschaft gibt es ein Geben und Nehmen zum gegenseitigen Vorteil, wie unter Fremden. Damit die Menschen sich gesellschaftsdienlich verhalten, sind in dieser Sicht Anreize und Restriktionen, Belohnung und Bestrafung zentral. Wo unsere Mitmenschen, oder besser Gegen-Menschen, nicht von solchen Anreizen und Restriktionen auf dem richtigen Weg gehalten werden, müssen wir ständig damit rechnen, übervorteilt zu werden und mit Schlimmerem. Denn „der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“, wie es schon seit Römerzeiten so unschön heißt. (…)

Alles an dieser technokratischen Sichtweise des vereinzelten, von der Natur getrennten Menschen widerspricht unserer Natur. Selbstbestimmung, Zugehörigkeit, Heimat und Kooperation sind tief empfundene, lebensnotwendige Bedürfnisse des Menschen.

Wenn man in einem System aufwächst, das zentrale Bedürfnisse des Menschen leugnet und so organisiert ist, dass an allem, was den Menschen besonders wichtig ist, künstlicher Mangel geschaffen wird, dann verhalten sich die Menschen zunehmend so, wie das System es annimmt und voraussetzt. Die Seele leidet, wird verwundet durch Zurücksetzung oder dadurch, dass wir uns entgegen unserer Natur und gegen die Natur verhalten müssen, um erfolgreich und akzeptiert zu sein, und dadurch, dass andere sich uns gegenüber ebenso verhalten.

Ermutigt von Werbung und vielfältigen Botschaften aus allen Lebensbereichen füllen wir den künstlich geschaffenen Mangel an Zugehörigkeit, Zuwendung und Sicherheit durch Konsum- und Machtstreben. Es fällt den meisten nicht einmal mehr auf, dass wir standardmäßig als „Konsumenten“ klassifiziert und angesprochen werden, so als ob uns das Konsumieren charakterisieren würde.

Verharren wir in Konformität mit der alten Erzählung, also wie grundlegend von Gesellschaft und Natur getrennte Individuen, die ihren Vorteil und ihre Sicherheit gegen andere zu erringen versuchen, dann senden wir dieses Signal in die Welt und bestärken andere darin, genauso zu handeln und zu denken. Wir stützen und verfestigen die Welterklärung, auf der das alte System beruht, auch wenn wir dieses überwinden wollen.

Ein Beispiel ist die vermeintliche Verteidigung der Interessen der einheimischen Arbeiter, indem man Zuwanderer zum Feindbild stilisiert und herabwürdigt. Wer etwa von „illegalen Asylanten“ schreibt, „denen wir gar nichts schulden“, treibt das gleiche Spiel wie die kapitalistischen Eliten, er tritt nur einfach weiter nach unten. Für ihn sind die Menschen in ärmeren Ländern, die strukturell von den globalen Wirtschaftsmächten (also uns) ausgebeutet werden, einfach Loser, die es nicht besser verdienen. Wir gegen die. Unwahrscheinlich, dass aus dieser Haltung heraus eine bessere, fairere, solidarischere Gesellschaft entsteht.

Ein anderes Beispiel: Wenn Umweltschützer Straßen blockieren und absichtlich lange Staus verursachen, um Aufmerksamkeit für ihr Anliegen zu gewinnen, ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass sie damit etwas in ihrem Sinne Positives bewirken. Sie verstärken bei den Pendlern, die nicht zur Arbeit kommen, das Gefühl des Ausgeliefertseins und des Alleinseins in einer feindlichen Gesellschaft. Wie wahrscheinlich ist es, dass solche Gefühle dazu führen, dass sie dadurch eher bereit sind, Verzicht zu üben, um gemeinsame Ziele voranzubringen?

Wenn wir eine bessere Welt errichten wollen, dann muss diese auf anderen Fundamenten stehen, müssen wir von anderen Voraussetzungen ausgehen. Deshalb hilft es nicht, den einen oder anderen mächtigen Vertreter des Systems zu bekämpfen und vielleicht sogar zu stürzen, eine neue Partei an die Macht zu bringen, mit Mistgabeln auf die Straße zu gehen. Solche Revolutionen haben immer wieder ihre Kinder gefressen.

Leider bedeutet das, dass wir Geduld aufbringen und auch ertragen müssen, dass wir manches Leid nicht verhindern können, auch wenn es uns näherkommt und nicht mehr außerhalb unseres Sichtfeldes gelitten wird. Denn nach vielen Jahrzehnten der verinnerlichten Alternativlosigkeit des Raubtierkapitalismus dauert es, bis sich eine neue Sicht auf die Welt und den Menschen in der Bevölkerung durchgesetzt hat.

Arbeiten an einer besseren Welt (mit Spaß)

Wenn wir unser Tun nur für sinnvoll halten, wenn es dazu beiträgt, das System in absehbarer Zeit grundlegend zu reformieren, dann ist das ein Rezept für deprimierte Passivität. Wenn wir die nötige Demut, Geduld und Frustrationstoleranz aber aufbringen, können wir unser Handeln vom Ziel leiten lassen, die Grundlagen für ein besseres System zu schaffen. Dann gibt es sehr, sehr vieles, was wir tun können, gern und mit Freude: (..)

 

Norbert Häring. „Endspiel des Kapitalismus – Wie die Konzerne die Macht übernahmen, und wie wir sie zurückholen“. Quadriga. Taschenbuchausgabe. 400 S. 14 Euro.

Leseprobe aus meinem Vorwort zur Taschenbuchausgabe von Endspiel des Kapitalismus

29.11.2022 – Norbert Häring

29. 11. 2022 | Der Spiegel Bestseller „Endspiel des Kapitalismus – Wie die Konzerne die Macht übernahmen, und wie wir sie zurückholen“ ist nun auch als Taschenbuchausgabe für 14 Euro erhältlich. Sie beinhaltet ein neues 17-seitiges Vorwort. Darin rekapituliere ich, was seit Abschluss des Manuskripts Mitte 2021 geschehen ist, und analysiere die Desorientierung vieler derjenigen, die den Glauben an das heutige System verloren haben und es reformieren wollen, die dabei aber die ideologische Basis dieses Systems so tief verinnerlicht haben, dass ihre Reformbemühungen ins Leere laufen. Hier ein Auszug aus diesem Vorwort.

Vorwort zur Taschenbuchausgabe (Auszug)

Rund 15 Monate, nachdem ich das Manuskript für die gebundene Ausgabe vom Endspiel des Kapitalismus abgeschlossen habe, bin ich beinahe schockiert von der Schnelligkeit, mit der sich die Dinge seither in Richtung des skizzierten Szenarios einer neo-feudalistischen Ordnung weiterentwickelt haben. (..)

Geopolitik des Endspiels

Die radikale Trennung der wirtschaftlichen Sphären von USA und China, die ich im Exkurs „Geopolitik des Endspiels“ voraussagte, ist eindrucksvoll vorangetrieben worden. Dabei war zu entscheiden, auf welcher Seite des neuen eisernen Vorhangs Russland liegen sollte. Aus US-Sicht stand die Antwort schon lange fest. Denn eine enge Kooperation des rohstoffreichen Russlands mit dem technologiereichen Europa zu verhindern, ist seit Jahrzehnten ein zentrales Anliegen Washingtons. Der Wirtschafts- und Energiekrieg mit Russland dürfte die europäische Wirtschaft so sehr schwächen, dass die EU der Vorherrschaft der USA mit ihrer verfallenden Infrastruktur und ausgehöhlten industriellen Basis nicht gefährlich werden kann.(…)

Verfall der wirtschaftlichen Basis

Der Verfall der Infrastruktur und die Aushöhlung der industriellen Basis gehen nun auch bei uns immer schneller voran. Durch Privatisierung staatlicher Aufgaben bei Infrastruktur, Wasser- und Energieversorgung, Wohnen, Gesundheit und Bildung sowie jetzt zusätzlich durch die Umlenkung staatlicher Ausgaben zum Militär und durch die exorbitant steigenden Energiepreise werden Deutschland und Europa immer mehr zu Hochkosten-Standorten. Denn die Gewinne der Profiteure müssen die produzierenden Betriebe mit höheren Steuern und Löhnen bezahlen, die Kosten der unzureichenden Infrastruktur müssen sie ertragen oder teuer ausgleichen.

Anstatt die Infrastruktur zu sanieren, steckt Deutschland auf Druck der USA 100 Milliarden Euro zusätzlich in Rüstung. Geld, das zu einem großen Teil für den Kauf von in Dollar bezahlten Rüstungsgütern ausgegeben wird. So wird der Dollar gestützt, dem Ungemach droht, weil Länder wie China und Russland nicht mehr wie bisher ihre Exportüberschüsse in den Kauf von US-Staatsanleihen investieren. Seit die USA und Europa die so angelegten russischen Währungsreserven einfach einkassiert haben, kommt das nicht mehr infrage.

Unter diesen widrigen Bedingungen für die Produktion verlegen sich die Konzerne noch mehr auf die Manipulation der Aktienkurse, statt in die Produktion zu investieren: „Konzerne kaufen so viele eigene Aktien zurück wie noch nie – und beschenken damit Aktionäre“, lautete eine Aufmacher-Überschrift des Handelsblatts am 9. August 2022. (..)

Die ideologische Basis des Kapitalismus zerfällt

Die Menschen fühlen sehr deutlich, dass etwas megafaul ist. Das ist der gute Teil der Nachricht. Denn ohne dass eine Mehrheit vom Glauben an das System und die Alternativlosigkeit des Kapitalismus abfällt, wird es keinen grundlegenden Wandel geben. (…)

Der unangenehme Teil der Nachricht ist, dass der Zerfall der ideologischen Basis des alten Systems stattfindet, ohne dass es eine weithin akzeptierte neue Erzählung, eine konkurrierende Weltsicht gäbe, auf die eine gemeinsame Vorstellung einer besseren Gesellschaft gegründet werden könnte. Vielmehr tobt nun der Kampf um die Durchsetzung einer solchen neuen Weltsicht.

Da setzt sich die Großkonzernlobby Weltwirtschaftsforum an die Spitze der Umweltschutzbewegung und will per „Großem Neustart“ (Great Reset) eine Welt auf seine Weise retten, die eben diese Konzerne an den Rand des Zusammenbruchs gebracht haben. Das soll mit Maßnahmen geschehen, die dem alten Modell entsprechen und den Konzernen zupasskommen. Mit technischen Großlösungen soll die Erderwärmung aufgehalten werden. Mit marktwirtschaftlicher Zuteilung von Emissions- und Energienutzungsrechten sollen diejenigen, die das meiste Geld haben, möglichst wirtschaften und konsumieren können wie bisher. (…)

Das sind Zeichen um sich greifender Orientierungslosigkeit, die einsetzen muss, wenn Menschen versuchen, mit Rezepten, die auf dem gescheiterten alten Weltbild beruhen, eine neue Welt zu bauen.

Von oben wird diese Orientierungslosigkeit nach Kräften befeuert, mit der durchaus erwünschten Folge, dass die Fronten in der öffentlichen Diskussion völlig durcheinandergeraten. Kritik am Weltwirtschaftsforum und der Heuchelei der Konzerne gilt denen, die sich für links oder progressiv halten, inzwischen als „rechts“. Von Liberal-Konservativen wird dagegen ausgerechnet dem Weltwirtschaftsforum mit seinem Great Reset und den Konzernen skurriler Weise ein Hang zum Kommunismus unterstellt, wo diese in Wahrheit eine neue Form des Feudalismus vorantreiben. Der verbliebenen Minderheit klassenbewusster, traditioneller Linker wird von der einen Seite unterstellt, rechts zu sein, von der anderen, dem Kommunismus zu huldigen. (…)

Wie ein Umsteuern nicht gelingt

Wenn wir das gegenwärtige Wirtschafts- und Gesellschaftssystem überwinden wollen, ist es wichtig, sich klarzumachen, welche die tiefer liegenden Bestandteile der Erzählung sind, auf die sich dieses System bisher gestützt hat. Wenn wir nämlich bei unseren Reformbemühungen unbewusst auf problematischen Elementen der alten Erzählung aufbauen, schaffen wir am Ende, selbst im Erfolgsfall, doch wieder nur ein System mit den gleichen Mängeln.

Zentral für das alte System ist das Menschen- und Weltbild, dass wir als Individuen im Großen und Ganzen allein und getrennt sind auf dieser Welt. Getrennt von unseren Mitmenschen, getrennt von der belebten und „unbelebten“ Natur um uns herum. Derart auf sich selbst gestellt, sucht der Mensch sein Überleben zu sichern, indem er sich die Natur unterwirft und sich innerhalb der Gesellschaft nach oben kämpft. Er findet sich zu Familien, Kommunen und ganzen Gesellschaften zusammen, aber das ist nur der Notwendigkeit und dem gegenseitigen Vorteil geschuldet. Kein Vorteil, keine Kooperation, lautet die Annahme.

Statt den Menschen als Teil der Natur zu sehen und ihn auch über seine Rolle in der Natur zu definieren, wird die Natur ausschließlich in einer dienenden Funktion für den Menschen gesehen. Nur was dem Menschen dient hat eine Daseinsberechtigung und ist schützenswert.

Dasselbe gilt für den Menschen als Teil der Gesellschaft. Zwischen ihm und der Gesellschaft gibt es ein Geben und Nehmen zum gegenseitigen Vorteil, wie unter Fremden. Damit die Menschen sich gesellschaftsdienlich verhalten, sind in dieser Sicht Anreize und Restriktionen, Belohnung und Bestrafung zentral. Wo unsere Mitmenschen, oder besser Gegen-Menschen, nicht von solchen Anreizen und Restriktionen auf dem richtigen Weg gehalten werden, müssen wir ständig damit rechnen, übervorteilt zu werden und mit Schlimmerem. Denn „der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“, wie es schon seit Römerzeiten so unschön heißt. (…)

Alles an dieser technokratischen Sichtweise des vereinzelten, von der Natur getrennten Menschen widerspricht unserer Natur. Selbstbestimmung, Zugehörigkeit, Heimat und Kooperation sind tief empfundene, lebensnotwendige Bedürfnisse des Menschen.

Wenn man in einem System aufwächst, das zentrale Bedürfnisse des Menschen leugnet und so organisiert ist, dass an allem, was den Menschen besonders wichtig ist, künstlicher Mangel geschaffen wird, dann verhalten sich die Menschen zunehmend so, wie das System es annimmt und voraussetzt. Die Seele leidet, wird verwundet durch Zurücksetzung oder dadurch, dass wir uns entgegen unserer Natur und gegen die Natur verhalten müssen, um erfolgreich und akzeptiert zu sein, und dadurch, dass andere sich uns gegenüber ebenso verhalten.

Ermutigt von Werbung und vielfältigen Botschaften aus allen Lebensbereichen füllen wir den künstlich geschaffenen Mangel an Zugehörigkeit, Zuwendung und Sicherheit durch Konsum- und Machtstreben. Es fällt den meisten nicht einmal mehr auf, dass wir standardmäßig als „Konsumenten“ klassifiziert und angesprochen werden, so als ob uns das Konsumieren charakterisieren würde.

Verharren wir in Konformität mit der alten Erzählung, also wie grundlegend von Gesellschaft und Natur getrennte Individuen, die ihren Vorteil und ihre Sicherheit gegen andere zu erringen versuchen, dann senden wir dieses Signal in die Welt und bestärken andere darin, genauso zu handeln und zu denken. Wir stützen und verfestigen die Welterklärung, auf der das alte System beruht, auch wenn wir dieses überwinden wollen.

Ein Beispiel ist die vermeintliche Verteidigung der Interessen der einheimischen Arbeiter, indem man Zuwanderer zum Feindbild stilisiert und herabwürdigt. Wer etwa von „illegalen Asylanten“ schreibt, „denen wir gar nichts schulden“, treibt das gleiche Spiel wie die kapitalistischen Eliten, er tritt nur einfach weiter nach unten. Für ihn sind die Menschen in ärmeren Ländern, die strukturell von den globalen Wirtschaftsmächten (also uns) ausgebeutet werden, einfach Loser, die es nicht besser verdienen. Wir gegen die. Unwahrscheinlich, dass aus dieser Haltung heraus eine bessere, fairere, solidarischere Gesellschaft entsteht.

Ein anderes Beispiel: Wenn Umweltschützer Straßen blockieren und absichtlich lange Staus verursachen, um Aufmerksamkeit für ihr Anliegen zu gewinnen, ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass sie damit etwas in ihrem Sinne Positives bewirken. Sie verstärken bei den Pendlern, die nicht zur Arbeit kommen, das Gefühl des Ausgeliefertseins und des Alleinseins in einer feindlichen Gesellschaft. Wie wahrscheinlich ist es, dass solche Gefühle dazu führen, dass sie dadurch eher bereit sind, Verzicht zu üben, um gemeinsame Ziele voranzubringen?

Wenn wir eine bessere Welt errichten wollen, dann muss diese auf anderen Fundamenten stehen, müssen wir von anderen Voraussetzungen ausgehen. Deshalb hilft es nicht, den einen oder anderen mächtigen Vertreter des Systems zu bekämpfen und vielleicht sogar zu stürzen, eine neue Partei an die Macht zu bringen, mit Mistgabeln auf die Straße zu gehen. Solche Revolutionen haben immer wieder ihre Kinder gefressen.

Leider bedeutet das, dass wir Geduld aufbringen und auch ertragen müssen, dass wir manches Leid nicht verhindern können, auch wenn es uns näherkommt und nicht mehr außerhalb unseres Sichtfeldes gelitten wird. Denn nach vielen Jahrzehnten der verinnerlichten Alternativlosigkeit des Raubtierkapitalismus dauert es, bis sich eine neue Sicht auf die Welt und den Menschen in der Bevölkerung durchgesetzt hat.

Arbeiten an einer besseren Welt (mit Spaß)

Wenn wir unser Tun nur für sinnvoll halten, wenn es dazu beiträgt, das System in absehbarer Zeit grundlegend zu reformieren, dann ist das ein Rezept für deprimierte Passivität. Wenn wir die nötige Demut, Geduld und Frustrationstoleranz aber aufbringen, können wir unser Handeln vom Ziel leiten lassen, die Grundlagen für ein besseres System zu schaffen. Dann gibt es sehr, sehr vieles, was wir tun können, gern und mit Freude: (..)

 

Norbert Häring. „Endspiel des Kapitalismus – Wie die Konzerne die Macht übernahmen, und wie wir sie zurückholen“. Quadriga. Taschenbuchausgabe. 400 S. 14 Euro.

Verwandte Beiträge