Pro und Contra digitalisierte Gesundheit  Teil 1: Pro

Pro und Contra digitalisierte Gesundheit Teil 1: Pro

12.09.2022 – Norbert Häring

12. 09. 2022 | Solche Bücher sollte es mehr geben. Der Westend-Verlag hat das Büchlein „Digitalisierte Gesundheit“ herausgebracht und es je zur Hälfte von zwei Ärzten, einem Befürworter und einem Kritiker, schreiben lassen. Beide dürfen ungehindert ihre Argumente vorbringen, die Leser bilden sich daraus ihre Meinung. Ich war sehr neugierig, ob mich die Pro-Argumente eines nicht offenkundig interessengeleiteten Insiders wenigstens etwas überzeugen können.

Ich will mich redlich bemühen, die Besprechung im Geiste der Herausgeber zu schreiben. Ich präsentiere in knapper Form die Pro-Argumente des Arztes und ehemaligen Präsidenten der Landesärztekammer von Schleswig-Holstein, Franz Bartmann, und kommentiere sie dann, bevor ich die Gegenargumente des Psychiaters und Psychotherapeuten Andreas Meißner im zweiten Teil des Buches erst lese, dann wiedergebe und kommentiere (Teil 2 der Besprechung).

Franz Bartmann, Andreas Meißner: „Digitalisierte Gesundheit“ Westend. 96 S. 14 Euro. ISBN: 9783864893513

In einem dritten Teil ziehe ich ein zusammenfassendes Resümee, unter Heranziehung eines Interviews mit dem Chef des für die Digitalisierung im Gesundheitswesen zuständigen Staatsunternehmens Gematic und einem aktuellen Text auf der Netzseite des Weltwirtschaftsforums über die Verbesserung des Menschen mit technischen Mitteln.

Teil 1: Pro Digitalisierung

„…denn sie wissen nicht, was sie tun.“ So überschreibt Bartmann sein Plädoyer für die elektronische Patientenakte. Gemeint scheint vor allem, dass die Ärzte nicht wissen, was die Patienten und die anderen Ärzte tun.

Elektronische Patientenakte

Patienten steht es frei in gleicher Sache mehrere Fachärzte aufzusuchen. Diese wissen nicht unbedingt voneinander und von den jeweiligen Diagnosen und Verschreibungen, und wenn, dann nur per stille Post über den Patienten. Auch der Hausarzt ist nicht unbedingt eingebunden und wird oft nicht oder nicht ausreichend über Befunde informiert. Das kann zur gefährlichen Behandlung mit Medikamenten führen, die nicht miteinander kompatibel sind. Offenkundige Falschbehandlungen bleiben möglicherweise unentdeckt.

Für die meisten halbwegs gesunden Menschen ist die elektronische Krankenakte nicht besonders wichtig. Lebenswichtig ist sie vor allem dann, wenn im akuten Notfall der Patient nicht ansprechbar ist, aber Medikamente nimmt oder Krankheiten hat, von denen die behandelnden Ärztinnen und Ärzte wissen sollten.

Die bisher nur auf Antrag der Patienten (Opt-In) genutzten elektronischen Patientenakten (seit Jan 2021), stellen so etwas wie PDF-Sammlungen dar, die von allen berechtigten Gesundheitsdienstleistern abgerufen werden können. Sie werden sehr wenig genutzt, auch weil die Patienten kaum über die Möglichkeit informiert werden. Das sei allerdings nicht so schlimm, denn man kann darauf setzen, dass schwer und chronisch Kranke aus Eigeninteresse mitmachen, weil es für sie wichtig ist, dass die Versorgenden im Notfall sofort über ihre Krankheiten und die Behandlungen Bescheid wissen.

Sobald allerdings (wie geplant) die elektronische Akte nicht mehr nur aus einer Dokumentensammlung besteht, sondern aus strukturierten, durchsuchbaren Daten über Diagnosen, Behandlungen und Ergebnisse, dann müsse man vom Opt-In zum Opt-Out übergehen. Bei diesem Widerspruchsverfahren bekommt jeder eine elektronische Akte, der nicht ausdrücklich widerspricht. Der Grund wird nicht näher ausgeführt, aber unterstellt scheint zu werden, dass größere, strukturierten Datenmassen der Forschung entscheidend helfen, herauszufinden, welche Behandlungen bei welchen Diagnosen und bei verschiedenen Menschen aussichtsreich sind.

Elektronisches Rezept

Bartmann beginnt sein Plädoyer für das elektronische Rezept überraschender Weise mit der Feststellung, dass das Unterschreiben eines vorbereiteten Papier-Rezepts mit bis zu drei Medikamenten Arzt oder Ärztin weniger als eine Sekunde kostet, während ein elektronisches Rezept zumindest zu Anfang etwa 30 Sekunden in Anspruch nahm. Das erklärt für ihn die negative Haltung vieler Ärzte zum elektronischen Rezept.

Diese berücksichtigten jedoch nicht, was passiert, wenn die Patienten mit dem Rezept die Praxis verlassen. Es bleibt ohne elektronisches Rezept für die Ärzte unklar, ob diese das Rezept einlösen (viele täten es nicht) und ob sie das Medikament dauerhaft einnehmen. Wegen der oft schweren möglichen Nebenwirkungen brächen sehr viele Patienten die medikamentöse Behandlung ab.

Beim elektronischen Rezept bekommt der Arzt dagegen immerhin eine Rückmeldung, ob und wann es eingelöst wurde. Die App, über die die Patienten das Rezept standardmäßig einlösen, könne außerdem einen Check der Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten auf diesem Weg verschriebenen vornehmen und bei Inkompatibilitäten warnen.

Arzneimittelsicherheit sei ein zentrales Argument für die Einführung des elektronischen Rezepts gewesen. Auslöser sei der Arzneimittelskandal um den Blutfettsenker Lipobay gewesen, der zu über 100 Toten geführt hatte. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass der derzeitige Gesundheitsminister Karl Lauterbach als Werbender für Lipobay in diesen Skandal indirekt verwickelt war.

Andere Länder als Erfolgsmodelle?

Das Fragezeichen stammt, zumindest sinngemäß vom Autor. Erfolgsmodelle seien keine Blaupausen, schreibt er, und außerdem, in sehr ehrenwerter Offenheit auch:

„Eine erfolgreiche Digitalisierung ist nicht gleichbedeutend mit einer hohen Versorgungsqualität. (Bei der) Lebenserwartung liegt Estland, mit aktuell 78 Jahren vergleichsweise weit abgeschlagen fast vier Jahre unter derjenigen Deutschlands.“

Ansonsten referiert er eine Studie der Bertelsmann-Stiftung, wonach Deutschland bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens ganz hinten liege, stellt aber fest, dass man nicht einfach weiter fortgeschrittene Länder kopieren könne, weil diese andere Voraussetzungen hätten.

Erfolgreiche Digitalisierungsprojekte

Bartmann listet auch erfolgreiche Digitalisierungsprojekte auf. Es handelt sich um Projekte der Telemedizin, und zwar solche, bei denen spezialisierte und erfahrene Ärztinnen und Ärzte mit kommunikationstechnischen Mitteln die direkt behandelnden Ärzte oder Sanitäter unterstützen. Konkret sind das „radiologische Netzwerke“, die Schlaganfallversorgung, das „virtuelle Krankenhaus“ und der „Tele-Notarzt“.

Als unnötig bremsend kritisiert er dabei unter anderem unzureichende Vergütung durch die Krankenkassen. Im Fall des Telemonitoring bei Herzinsuffizienz, das er als Negativbeispiel für Blockade nennt, führt er den Stillstand auf starre Regeln der Trennung von ambulant und stationär zurück. Bei den Telenotärzten bezeichnet er die Sorge, die Möglichkeit der Zuschaltung des Notarztes könnte als Vorwand zur Ausdünnung des teuren Notarztnetzes dienen, als Missverständnis, das vom Vorurteil gegen E-Health generell herrühre, dass „mit dieser das Ziel verbunden sei, den Arzt komplett zu ersetzen“.

Sein Resümee: Windmühlen statt Mauern bauen

In seinem Resümee ruft Bartmann dazu auf, getreu einer chinesischen Weisheit, Windmühlen zu bauen, wenn der Wind sich dreht, nicht Mauern. Er räumt ein, dass sich das Arzt-Patienten-Verhältnis durch die Digitalisierung zum Schlechteren wandeln könne. Aber das sei unvermeidlich, weil sich „die Verhältnisse“ tiefgreifend änderten, denn:

„Der Körper generiert permanent Daten, die Rückschlüsse zulassen auf die körperliche und seelische Verfassung einer Person. Diese warten nur darauf, aufgenommen und interpretiert zu werden.“

Daraus, und aus vielen weiteren Daten, die wir im Alltag generierten,

“ (…) sind Nutzer- und Personenprofile ableitbar, die zum Beispiel zu Vergünstigungen in speziellen Versicherungstarifen genutzt werden können. (…) Was im ersten Moment unheimlich anmuten mag, sollte unbedingt aus der Perspektive des Nutzers heraus betrachtet werden. (…) Solche Daten, die Aussagen über den Gesundheitszustand eines Menschen treffen können, (…) können Leiden verhindern und möglicherweise sogar Leben retten. (…) Das die Entwicklung in diese Richtung weiter voranschreitet, muss als gegeben und unabwendbar erscheinen.“

Und im allerletzten Absatz, den er mit „Schlussakkord“ überschreibt, bringt Bartmann seine Haltung prägnant auf den Punkt:

„Die zentralen Kritikpunkte an einer Digitalisierung der Medizin ergeben sich aus den Fragen zum Datenschutz und der Befürchtung, dass dieser Schaden leiden könnte. Und zweifellos ist der Schutz von Gesundheitsdaten tief im ärztlichen Ethos verankert. Diesem ärztlichen Ethos einspricht jedoch in noch entscheidenderem Maße die Verpflichtung, Leiden zu lindern und Krankheiten zu heilen. Im Zielkonflikt sollte daher immer als oberste Maxime das Patientenwohl stehen.“

Was mich überzeugt hat, und was nicht

Dass Kommunikationstechnologie zum Austausch und zur Kooperation zwischen Behandelnden nützlich ist und genutzt werden sollte, hat mich überzeugt. Davon musste ich allerdings nicht überzeugt werden.

Ich hätte mir ein paar mehr überzeugende Argumente für die zwangsweise (nur darum wird ja gestritten) Digitalisierung im Gesundheitswesen erhofft. Der Schlussakkord sagt ganz offen, dass der Autor erst gar nicht versucht, mir meine Sorgen um die Privatsphäre und die Ausnutzung von Daten über meine Gesundheit und Krankheiten zu meinem Nachteil, auszureden. Er sagt nur, sie seien aus ärztlicher Sicht nachrangig und Privatsphäre sei ohnehin ein Ding von gestern.

Beides würde ich entschieden bestreiten. Erstens besteht das Patientenwohl nicht nur aus dem, was ein allein an Krankheitsbildern orientierter Arzt dafür hält oder erklärt. Wenn ein Kranker oder ein wahrscheinlich zukünftig Kranker aufgrund von datengestützten Algorithmen und Datenlecks keine Krankenversicherung, keinen Job oder keine Wohnung mehr erhält, ist das seinem Wohl in starkem Maße unzuträglich.

Zweitens besteht gerade im Gesundheitswesen wegen des großen „Rückstands“ in der Digitalisierung und des besonderen gesetzlichen Schutzes von Gesundheitsdaten noch ein großes Maß an Privatsphäre, mindestens für die Mehrheit, die auf Gesundheits- und Fitnessapps verzichtet. Dass die Datneschutzregeln gegen die allseitige illegale Überwachung durch politisch mächtige IT-Großkonzerne endlich durchgesetzt werden sollten, ist für mich kein Argument, den Datenschutz auch in einem so sensiblen Feld wie der Gesundheit einfach aufzugeben.

Statt summarisch den Datenschutz beiseite zu wischen, hätte es dem Pro-Vertreter gut angestanden, darauf einzugehen, welche seiner Ziele man vielleicht auch mit deutlich geringeren Einschränkungen beim Datenschutz mindestens weitgehend erreichen könnte. Da wäre sicher viel zu finden.

Wo Bartmann bei seinen Beispielen Probleme auflistet, handelt es sich um Probleme, die Vergütungsregeln und andere bürokratische Regeln betreffen. Diese werden durch Digitalisierung nicht beseitigt.

Überzeugt hat mich auch, dass man mit massenhaft Daten aus der ungehinderten ständigen Ausforschung und Speicherung der Körperzustände und des Handelns der Menschen nützliche Schlüsse zur Entstehung und Vermeidung oder Behandlung von Krankheiten ziehen kann. Auch davon musste ich nicht überzeugt werden. Was jedoch in diesem Zusammenhang fehlt, ist jegliche ernsthaft Auseinandersetzung damit, was man sonst noch mit diesen Daten machen kann, wenn man ein gewinnmaximierendes Versicherungs- oder IT-Unternehmen, oder eine Regierung mit totalitären Anwandlungen ist.

Auch die Möglichkeit, dass Effizienzsteigerung durch Telemedizin und andere Formen der Digitalisierung zur Kostensenkung statt zur Versorgungsverbesserung genutzt werden könnten, wischt Bartmann allzu nonchalant beiseite. Kostendämpfung im Gesundheitswesen ist ja nicht erst seit gestern ein sehr prominentes Ziel der Gesundheitspolitik.

Die gesamte Argumentationskette geht durchgehend unausgesprochen von der naiv-technokratischen Sichtweise aus, dass alle Beteiligten ausschließlich und selbstlos das Beste des Patienten wollen. Kommerzielle Interessen, die es im Gesundheitswesen zuhauf gibt, gerade auch bei der als Kronzeugin angeführten Bertelsmann-Stiftung und bei den IT-Unternehmen, werden fast vollkommen ausgeblendet.

Passend dazu werden auch Patientinnen und Patienten bestenfalls als passive Empfänger der ärztlichen Leistungen, oft aber auch als Störfaktoren bei der grundsätzlich richtigen und optimalen Behandlung durch die Ärztin oder den Arzt betrachtet. Deshalb sind sie nämlich auch unbedingt einer besseren ärztlichen Überwachung mit digitalen Mitteln zuzuführen. Dass es ganz sinnvoll sein kann, wenn eine Patientin einen zweiten Arzt aufsucht, um die Diagnose oder Behandlung des ersten gegenzuchecken, wird außer Betracht gelassen. Mir sind aus eigener Erfahrung und aus dem Umfeld Dutzende Fälle bekannt, wo das sehr wichtig und hilfreich war. Nach den Vorstellungen von Bartmann wäre das künftig nicht mehr möglich, die Patientinnen und Patienten noch stärker den Halbgöttern in Weiß ausgeliefert.

Bartmann macht ein großes Thema daraus, dass viele Patienten verschriebene Medikamente nicht, oder nicht lange genug einnehmen. Als vermeintliche Abhilfe durch das e-Rezept reicht es ihm aber schon, dass damit die Ärzte verfolgen können, ob das Rezept eingelöst wurde. Das Hauptproblem bleibt also ungelöst. Es gibt allerdings schon erfolgreiche Versuche mit Medikamenten, die die Einnahme per Funk melden. Aber davon schreibt er nicht. Seiner Argumentation nach würde er deren standardmäßigen Einsatz wohl begrüßen.

Mir ist außerdem die Grundphilosophie entschieden zu wenig ganzheitlich. Mit elektronischen Daten kann man grundsätzlich die erfolgversprechendste Behandlung ermitteln, lautet sie, selbst bei psychischen Störungen wie Depression. Dass es vielleicht auch die Lebensumstände und die Lebensgeschichte sind, die einen Menschen krank oder depressiv machen können, und dass man mit einem ausführlichen Gespräch mit dem Patienten vielleicht mehr erfährt und bewirkt als mit tausend Datenpunkten, kommt nicht vor.

Ausblick

Soviel zu meiner Kritik der Pro-Argumente, bevor ich die Contra-Argumente von Andreas Meißner im gleichen Buch lese und bespreche. Der Sinnspruch, den Meißner voranstellt, lässt mich erahnen, dass er in etwa meiner Meinung ist. Er lautet:

„Für die Krise in der Humanmedizin gibt es nur eine Medizin: das Humane.“
Gerhard Uhlenbruck

Teil 2

Teil 3

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Ich will mich redlich bemühen, die Besprechung im Geiste der Herausgeber zu schreiben. Ich präsentiere in knapper Form die Pro-Argumente des Arztes und ehemaligen Präsidenten der Landesärztekammer von Schleswig-Holstein, Franz Bartmann, und kommentiere sie dann, bevor ich die Gegenargumente des Psychiaters und Psychotherapeuten Andreas Meißner im zweiten Teil des Buches erst lese, dann wiedergebe und kommentiere (Teil 2 der Besprechung).

Franz Bartmann, Andreas Meißner: „Digitalisierte Gesundheit“ Westend. 96 S. 14 Euro. ISBN: 9783864893513

In einem dritten Teil ziehe ich ein zusammenfassendes Resümee, unter Heranziehung eines Interviews mit dem Chef des für die Digitalisierung im Gesundheitswesen zuständigen Staatsunternehmens Gematic und einem aktuellen Text auf der Netzseite des Weltwirtschaftsforums über die Verbesserung des Menschen mit technischen Mitteln.

Teil 1: Pro Digitalisierung

„…denn sie wissen nicht, was sie tun.“ So überschreibt Bartmann sein Plädoyer für die elektronische Patientenakte. Gemeint scheint vor allem, dass die Ärzte nicht wissen, was die Patienten und die anderen Ärzte tun.

Elektronische Patientenakte

Patienten steht es frei in gleicher Sache mehrere Fachärzte aufzusuchen. Diese wissen nicht unbedingt voneinander und von den jeweiligen Diagnosen und Verschreibungen, und wenn, dann nur per stille Post über den Patienten. Auch der Hausarzt ist nicht unbedingt eingebunden und wird oft nicht oder nicht ausreichend über Befunde informiert. Das kann zur gefährlichen Behandlung mit Medikamenten führen, die nicht miteinander kompatibel sind. Offenkundige Falschbehandlungen bleiben möglicherweise unentdeckt.

Für die meisten halbwegs gesunden Menschen ist die elektronische Krankenakte nicht besonders wichtig. Lebenswichtig ist sie vor allem dann, wenn im akuten Notfall der Patient nicht ansprechbar ist, aber Medikamente nimmt oder Krankheiten hat, von denen die behandelnden Ärztinnen und Ärzte wissen sollten.

Die bisher nur auf Antrag der Patienten (Opt-In) genutzten elektronischen Patientenakten (seit Jan 2021), stellen so etwas wie PDF-Sammlungen dar, die von allen berechtigten Gesundheitsdienstleistern abgerufen werden können. Sie werden sehr wenig genutzt, auch weil die Patienten kaum über die Möglichkeit informiert werden. Das sei allerdings nicht so schlimm, denn man kann darauf setzen, dass schwer und chronisch Kranke aus Eigeninteresse mitmachen, weil es für sie wichtig ist, dass die Versorgenden im Notfall sofort über ihre Krankheiten und die Behandlungen Bescheid wissen.

Sobald allerdings (wie geplant) die elektronische Akte nicht mehr nur aus einer Dokumentensammlung besteht, sondern aus strukturierten, durchsuchbaren Daten über Diagnosen, Behandlungen und Ergebnisse, dann müsse man vom Opt-In zum Opt-Out übergehen. Bei diesem Widerspruchsverfahren bekommt jeder eine elektronische Akte, der nicht ausdrücklich widerspricht. Der Grund wird nicht näher ausgeführt, aber unterstellt scheint zu werden, dass größere, strukturierten Datenmassen der Forschung entscheidend helfen, herauszufinden, welche Behandlungen bei welchen Diagnosen und bei verschiedenen Menschen aussichtsreich sind.

Elektronisches Rezept

Bartmann beginnt sein Plädoyer für das elektronische Rezept überraschender Weise mit der Feststellung, dass das Unterschreiben eines vorbereiteten Papier-Rezepts mit bis zu drei Medikamenten Arzt oder Ärztin weniger als eine Sekunde kostet, während ein elektronisches Rezept zumindest zu Anfang etwa 30 Sekunden in Anspruch nahm. Das erklärt für ihn die negative Haltung vieler Ärzte zum elektronischen Rezept.

Diese berücksichtigten jedoch nicht, was passiert, wenn die Patienten mit dem Rezept die Praxis verlassen. Es bleibt ohne elektronisches Rezept für die Ärzte unklar, ob diese das Rezept einlösen (viele täten es nicht) und ob sie das Medikament dauerhaft einnehmen. Wegen der oft schweren möglichen Nebenwirkungen brächen sehr viele Patienten die medikamentöse Behandlung ab.

Beim elektronischen Rezept bekommt der Arzt dagegen immerhin eine Rückmeldung, ob und wann es eingelöst wurde. Die App, über die die Patienten das Rezept standardmäßig einlösen, könne außerdem einen Check der Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten auf diesem Weg verschriebenen vornehmen und bei Inkompatibilitäten warnen.

Arzneimittelsicherheit sei ein zentrales Argument für die Einführung des elektronischen Rezepts gewesen. Auslöser sei der Arzneimittelskandal um den Blutfettsenker Lipobay gewesen, der zu über 100 Toten geführt hatte. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass der derzeitige Gesundheitsminister Karl Lauterbach als Werbender für Lipobay in diesen Skandal indirekt verwickelt war.

Andere Länder als Erfolgsmodelle?

Das Fragezeichen stammt, zumindest sinngemäß vom Autor. Erfolgsmodelle seien keine Blaupausen, schreibt er, und außerdem, in sehr ehrenwerter Offenheit auch:

„Eine erfolgreiche Digitalisierung ist nicht gleichbedeutend mit einer hohen Versorgungsqualität. (Bei der) Lebenserwartung liegt Estland, mit aktuell 78 Jahren vergleichsweise weit abgeschlagen fast vier Jahre unter derjenigen Deutschlands.“

Ansonsten referiert er eine Studie der Bertelsmann-Stiftung, wonach Deutschland bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens ganz hinten liege, stellt aber fest, dass man nicht einfach weiter fortgeschrittene Länder kopieren könne, weil diese andere Voraussetzungen hätten.

Erfolgreiche Digitalisierungsprojekte

Bartmann listet auch erfolgreiche Digitalisierungsprojekte auf. Es handelt sich um Projekte der Telemedizin, und zwar solche, bei denen spezialisierte und erfahrene Ärztinnen und Ärzte mit kommunikationstechnischen Mitteln die direkt behandelnden Ärzte oder Sanitäter unterstützen. Konkret sind das „radiologische Netzwerke“, die Schlaganfallversorgung, das „virtuelle Krankenhaus“ und der „Tele-Notarzt“.

Als unnötig bremsend kritisiert er dabei unter anderem unzureichende Vergütung durch die Krankenkassen. Im Fall des Telemonitoring bei Herzinsuffizienz, das er als Negativbeispiel für Blockade nennt, führt er den Stillstand auf starre Regeln der Trennung von ambulant und stationär zurück. Bei den Telenotärzten bezeichnet er die Sorge, die Möglichkeit der Zuschaltung des Notarztes könnte als Vorwand zur Ausdünnung des teuren Notarztnetzes dienen, als Missverständnis, das vom Vorurteil gegen E-Health generell herrühre, dass „mit dieser das Ziel verbunden sei, den Arzt komplett zu ersetzen“.

Sein Resümee: Windmühlen statt Mauern bauen

In seinem Resümee ruft Bartmann dazu auf, getreu einer chinesischen Weisheit, Windmühlen zu bauen, wenn der Wind sich dreht, nicht Mauern. Er räumt ein, dass sich das Arzt-Patienten-Verhältnis durch die Digitalisierung zum Schlechteren wandeln könne. Aber das sei unvermeidlich, weil sich „die Verhältnisse“ tiefgreifend änderten, denn:

„Der Körper generiert permanent Daten, die Rückschlüsse zulassen auf die körperliche und seelische Verfassung einer Person. Diese warten nur darauf, aufgenommen und interpretiert zu werden.“

Daraus, und aus vielen weiteren Daten, die wir im Alltag generierten,

“ (…) sind Nutzer- und Personenprofile ableitbar, die zum Beispiel zu Vergünstigungen in speziellen Versicherungstarifen genutzt werden können. (…) Was im ersten Moment unheimlich anmuten mag, sollte unbedingt aus der Perspektive des Nutzers heraus betrachtet werden. (…) Solche Daten, die Aussagen über den Gesundheitszustand eines Menschen treffen können, (…) können Leiden verhindern und möglicherweise sogar Leben retten. (…) Das die Entwicklung in diese Richtung weiter voranschreitet, muss als gegeben und unabwendbar erscheinen.“

Und im allerletzten Absatz, den er mit „Schlussakkord“ überschreibt, bringt Bartmann seine Haltung prägnant auf den Punkt:

„Die zentralen Kritikpunkte an einer Digitalisierung der Medizin ergeben sich aus den Fragen zum Datenschutz und der Befürchtung, dass dieser Schaden leiden könnte. Und zweifellos ist der Schutz von Gesundheitsdaten tief im ärztlichen Ethos verankert. Diesem ärztlichen Ethos einspricht jedoch in noch entscheidenderem Maße die Verpflichtung, Leiden zu lindern und Krankheiten zu heilen. Im Zielkonflikt sollte daher immer als oberste Maxime das Patientenwohl stehen.“

Was mich überzeugt hat, und was nicht

Dass Kommunikationstechnologie zum Austausch und zur Kooperation zwischen Behandelnden nützlich ist und genutzt werden sollte, hat mich überzeugt. Davon musste ich allerdings nicht überzeugt werden.

Ich hätte mir ein paar mehr überzeugende Argumente für die zwangsweise (nur darum wird ja gestritten) Digitalisierung im Gesundheitswesen erhofft. Der Schlussakkord sagt ganz offen, dass der Autor erst gar nicht versucht, mir meine Sorgen um die Privatsphäre und die Ausnutzung von Daten über meine Gesundheit und Krankheiten zu meinem Nachteil, auszureden. Er sagt nur, sie seien aus ärztlicher Sicht nachrangig und Privatsphäre sei ohnehin ein Ding von gestern.

Beides würde ich entschieden bestreiten. Erstens besteht das Patientenwohl nicht nur aus dem, was ein allein an Krankheitsbildern orientierter Arzt dafür hält oder erklärt. Wenn ein Kranker oder ein wahrscheinlich zukünftig Kranker aufgrund von datengestützten Algorithmen und Datenlecks keine Krankenversicherung, keinen Job oder keine Wohnung mehr erhält, ist das seinem Wohl in starkem Maße unzuträglich.

Zweitens besteht gerade im Gesundheitswesen wegen des großen „Rückstands“ in der Digitalisierung und des besonderen gesetzlichen Schutzes von Gesundheitsdaten noch ein großes Maß an Privatsphäre, mindestens für die Mehrheit, die auf Gesundheits- und Fitnessapps verzichtet. Dass die Datneschutzregeln gegen die allseitige illegale Überwachung durch politisch mächtige IT-Großkonzerne endlich durchgesetzt werden sollten, ist für mich kein Argument, den Datenschutz auch in einem so sensiblen Feld wie der Gesundheit einfach aufzugeben.

Statt summarisch den Datenschutz beiseite zu wischen, hätte es dem Pro-Vertreter gut angestanden, darauf einzugehen, welche seiner Ziele man vielleicht auch mit deutlich geringeren Einschränkungen beim Datenschutz mindestens weitgehend erreichen könnte. Da wäre sicher viel zu finden.

Wo Bartmann bei seinen Beispielen Probleme auflistet, handelt es sich um Probleme, die Vergütungsregeln und andere bürokratische Regeln betreffen. Diese werden durch Digitalisierung nicht beseitigt.

Überzeugt hat mich auch, dass man mit massenhaft Daten aus der ungehinderten ständigen Ausforschung und Speicherung der Körperzustände und des Handelns der Menschen nützliche Schlüsse zur Entstehung und Vermeidung oder Behandlung von Krankheiten ziehen kann. Auch davon musste ich nicht überzeugt werden. Was jedoch in diesem Zusammenhang fehlt, ist jegliche ernsthaft Auseinandersetzung damit, was man sonst noch mit diesen Daten machen kann, wenn man ein gewinnmaximierendes Versicherungs- oder IT-Unternehmen, oder eine Regierung mit totalitären Anwandlungen ist.

Auch die Möglichkeit, dass Effizienzsteigerung durch Telemedizin und andere Formen der Digitalisierung zur Kostensenkung statt zur Versorgungsverbesserung genutzt werden könnten, wischt Bartmann allzu nonchalant beiseite. Kostendämpfung im Gesundheitswesen ist ja nicht erst seit gestern ein sehr prominentes Ziel der Gesundheitspolitik.

Die gesamte Argumentationskette geht durchgehend unausgesprochen von der naiv-technokratischen Sichtweise aus, dass alle Beteiligten ausschließlich und selbstlos das Beste des Patienten wollen. Kommerzielle Interessen, die es im Gesundheitswesen zuhauf gibt, gerade auch bei der als Kronzeugin angeführten Bertelsmann-Stiftung und bei den IT-Unternehmen, werden fast vollkommen ausgeblendet.

Passend dazu werden auch Patientinnen und Patienten bestenfalls als passive Empfänger der ärztlichen Leistungen, oft aber auch als Störfaktoren bei der grundsätzlich richtigen und optimalen Behandlung durch die Ärztin oder den Arzt betrachtet. Deshalb sind sie nämlich auch unbedingt einer besseren ärztlichen Überwachung mit digitalen Mitteln zuzuführen. Dass es ganz sinnvoll sein kann, wenn eine Patientin einen zweiten Arzt aufsucht, um die Diagnose oder Behandlung des ersten gegenzuchecken, wird außer Betracht gelassen. Mir sind aus eigener Erfahrung und aus dem Umfeld Dutzende Fälle bekannt, wo das sehr wichtig und hilfreich war. Nach den Vorstellungen von Bartmann wäre das künftig nicht mehr möglich, die Patientinnen und Patienten noch stärker den Halbgöttern in Weiß ausgeliefert.

Bartmann macht ein großes Thema daraus, dass viele Patienten verschriebene Medikamente nicht, oder nicht lange genug einnehmen. Als vermeintliche Abhilfe durch das e-Rezept reicht es ihm aber schon, dass damit die Ärzte verfolgen können, ob das Rezept eingelöst wurde. Das Hauptproblem bleibt also ungelöst. Es gibt allerdings schon erfolgreiche Versuche mit Medikamenten, die die Einnahme per Funk melden. Aber davon schreibt er nicht. Seiner Argumentation nach würde er deren standardmäßigen Einsatz wohl begrüßen.

Mir ist außerdem die Grundphilosophie entschieden zu wenig ganzheitlich. Mit elektronischen Daten kann man grundsätzlich die erfolgversprechendste Behandlung ermitteln, lautet sie, selbst bei psychischen Störungen wie Depression. Dass es vielleicht auch die Lebensumstände und die Lebensgeschichte sind, die einen Menschen krank oder depressiv machen können, und dass man mit einem ausführlichen Gespräch mit dem Patienten vielleicht mehr erfährt und bewirkt als mit tausend Datenpunkten, kommt nicht vor.

Ausblick

Soviel zu meiner Kritik der Pro-Argumente, bevor ich die Contra-Argumente von Andreas Meißner im gleichen Buch lese und bespreche. Der Sinnspruch, den Meißner voranstellt, lässt mich erahnen, dass er in etwa meiner Meinung ist. Er lautet:

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