Pro und Contra digitalisierte Gesundheit  Teil 3: Pläne von Gematik und Weltwirtschaftsforum (anstatt eines Resümees)

Pro und Contra digitalisierte Gesundheit Teil 3: Pläne von Gematik und Weltwirtschaftsforum (anstatt eines Resümees)

12.09.2022 – Norbert Häring

12. 09. 2022 | Ein Interview mit dem Chef des für die Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens zuständigen Staatsunternehmens Gematik und ein Text des Weltwirtschaftsforums machen aus meiner Sicht recht gut deutlich, dass die Gegner der zwangsweisen Digitalisierung auf ganzer Linie Recht haben.

Den Pro-Part in dem Buch „Digitalisierung der Gesundheit“ hatte der Gefäßchirurg und ehemalige Ärztefunktionär Franz Bartmann geschrieben, den Contra-Part der Psychiater und Psychotherapeut Andreas Meißner. Bartmann hatte vor allem auf zusätzliche Daten für die Wissenschaft und bessere Information von (Notfall-)Medizinern über Behandlungen und Medikamenteneinnahme abgestellt und die Bedenken in Sachen Datenschutz als demgegenüber nicht so bedeutsam beiseite gewischt.

Meißner hatte auf diese abgestellt und auf die Verschlechterung des Arzt-Patienten-Verhältnisses, sowie generell die damit vorangetriebene Enthumanisierung und Technisierung der Versorgung. Außerdem sei die zwangsweise Digitalisierung der Arzt- und Therapeutenpraxen zu teuer. Das Geld fehle für bereits bekannte dringende Aufgaben. Die Pro-Argumente hat er nicht gelten lassen, weil die digitalen Lösungen das nicht leisteten, was sie versprechen. Weder bei Ärzten, noch bei Patienten gäbe es mehrheitlich eine Nachfrage nach mehr Digitalisierung, weshalb diese auch weitgehend an der allgemeinen Öffentlichkeit vorbei vorangetrieben werde.

Ich habe bereits durchblicken lassen, wer mich mehr überzeugt hat. Anstatt eines Resümees will ich daher den Chef der Gematik in einem kürzlich veröffentlichten Interview sprechen lassen, sowie das Weltwirtschaftsforum, das als überaus mächtige Lobby der großen internationalen Konzerne der IT- und Pharmabranchen, die Digitalisierung des Gesundheitswesens maßgeblich vorantreibt.

Zum Einstieg eine kurze Meldung zum Niveau des Datenschutzes von August 2022: Sicherheitsexperten des Chaos Computer Clubs (CCC) haben mit einen erfolgreichen Angriff auf gängige Lösungen für Identifizierungsverfahren per Video (Videoident) dafür gesorgt, dass die Krankenkassen dieses seit 2021 genutzte Verfahren nun auf Anweisung der Gematik nicht mehr nutzen dürfen. Hacker des CCC hatten sich unter anderem Zugriff auf die elektronische Patientenakte einer Testperson verschafft. Laut CCC konnte man mit geringem Aufwand für eine beliebige Auswahl der 73 Millionen gesetzlich Versicherten eine elektronische Patientenakte (ePA) eröffnen und darüber Gesundheitsdaten anfordern, die in Arztpraxen, Krankenhäusern und bei Krankenkassen gespeichert sind. Bei einer genaueren Prüfung der elektronischen Rezeptes stellten Sicherheitsforscher des CCC fest, dass medizinische Gesundheitsdaten im Klartext gespeichert werden, dass die Verfügbarkeit und Einlösbarkeit des E-Rezepts u.a. bei Störfällen mangelhaft sind und der Datenschutz ein schlechter Witz.

Gematik-Chef macht Telematik-Infrastruktur schlecht

Im Interview mit E-Health-Com Ende Juli 2022 sagte der Chef der Gematik, Markus Leyck Dieken sehr viel Interessantes. (Das ist der, der Jens Spahn eine Wohnung verkauft hat, bevor dieser ihn auf den Job berief.)

Zum Thema Diskussion mit der Öffentlichkeit:

„Die Gematik ist eine sich der Öffentlichkeit zeigende, exponierende Agentur für Deutschland.“

Schön wärs. Sucht man nach Interviews, findet man fast nur Interviews mit Ärzte- und Branchenfachmedien, aber ganz ganz wenig für die breite Öffentlichkeit.

Zur Kritik an der Technik (Telematik Infrastruktur oder TI), die den Ärzten aufgezwungen wurde und die die gesetzliche Versicherten (wieder mal nur die) teuer bezahlen mussten:

„Die TI 2.0 ist die Lehre aus den letzten zwei Jahren. Wir haben uns angesehen, warum das, was wir in Deutschland als TI implementiert haben, so hölzern, so träge und, ja, auch so fehleranfällig ist. Und da wurde schnell klar, wir können mit dieser Infrastruktur niemals die Anforderungen der Zukunft erfüllen. (…) Den nach im Versorgungskontext nutzbaren Daten können wir mit der aktuellen Technik gar nicht erfüllen. (…) Der Gesellschafterkreis hat entschieden, zunächst einen Beschluss zu fällen, der den Konnektoraustausch insgesamt in Deutschland vorsieht. Das wird sich jetzt über mehrere Jahre hinziehen. Nun kommen aber noch weitere Faktoren dazu. Erstens Chipmangel.. Ich glaube, dass wir in der Mitte des Weges eine andere Lösung finden werden und keineswegs in jeder deutschen Praxis noch mal ein Techniker zu Besuch kommen muss.. (…) Unsere bisherige Programmierung basiert auf Sütterlin-Schrift, die es so in keinem anderen Land der Welt gibt.“

Mit anderen Worten. Die Kritik an dem, was den Ärzten und Patienten bisher aufgezwungen wurde, war mehr als berechtigt. Die Daten sind für die ärztliche Versorgung nicht nutzbar. Aber jetzt machen wir alles neu und diesmal machen wir das super.

Ohne jede Rücksicht darauf, oder gar Erwähnung, dass das Bundesverfassungsgericht eine einheitliche digitale Identität der Bürger für alle Zwecke aus Datenschutzgründen für unzulässig erklärt hat, stichelt der Gematik-Chef gegen jede Form der Trennung von Identifizierungsverfahren für verschiedene Zwecke:

„Ich gehe davon aus, dass mit einem bis zwei Quartalen Verzögerung alle Versicherten eine eID bekommen. Die eID ist im Prinzip so etwas wie das Eintrittstor für neue digitale Angebote. In vielen europäischen Ländern haben die Bürger:innen nur eine einzige Identität. Deutschland konnte sich bislang nicht dafür entscheiden, dass das Zivilleben und das Gesundheitsleben eine gemeinsame digitale Identität bekommen. Da gibt es Gespräche aktuell, wir haben auch ein Auge auf diese Gespräche, aber die Einschätzung ist im Moment immer noch die aus Zeiten Otto Schilys und Ulla Schmidts, wonach wir uns in Deutschland für getrennte IDs entscheiden sollten.“

Man bedenke: Wenn alles an der einen digitalen Identität hängt, sind auch alle Daten über eine Person über diese Identität abzurufen. Viele der angeblich sicheren Identitätsdatenbanken sind geknackt worden, andere werden es sicherlich noch. Ein Passowort kann man in einem solchen Fall wechseln, seine Identität nicht.

Der Gematik-Chef freut sich sehr über den Entwurf für die Verordnung des Europäischen Gesundheitsdatenraums (EHDS):

„Die EHDS-Verordnung macht deutlich, dass bei Gesundheitsdaten der Nutzen stärker in den Vordergrund gerückt werden muss und kein reiner Risikodiskurs geführt werden darf.“

Mit anderen Worten: Der Datenschutz soll gerade im Gesundheitswesen, wo er besonders dringlich ist, zurückgefahren werden.

Und noch mehr freut er sich darüber, dass im Koalitionsvertrag der  Regierungsparteien der Übergang zum Opt-out-Modell vereinbart ist, bei dem jeder eine elektronische Patientenakte (ePA) bekommt, der nicht ausdrücklich widerspricht:

„Wir freuen uns sehr! Das ist eine mutige politische Entscheidung, und es ist die erste Opt-out-Entscheidung im deutschen Gesundheitswesen. Wichtig zu verstehen ist, dass es beim Thema Opt-out nicht um die jetzige ePA geht. Die Opt-out-ePA hat eine ganz andere Verfassung, auch technischer Natur. (…) Das kann nicht einfach ein PDF-Kanister sein, zu dem die Bürger:innen dann halt automatisch angemeldet werden, statt sich aktiv anmelden zu müssen. Eine Opt-out-ePA braucht eine weitgehend dezentralisierte Architektur, bei der ich als Arzt bestimmte definierte Daten und Dokumente automatisch ablege und für den Zugriff freigebe. Das ist ein völlig neuer Ansatz. Wir werden dafür eine moderne Verschlüsselungstechnologie benötigen, die wir bei der aktuellen ePA nicht nutzen. Wir brauchen die eID und (…) strukturierte Daten, die von den Leistungserbringern abgegriffen werden können. (…)  Viele der Gretchenfragen, die sich bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens stellen, müssen dafür definitiv beantwortet werden, während wir diese Fragen bis jetzt oft einfach vor uns hergeschoben haben.“

Mit anderen Worten: Hier wird voranmarschiert, zwangsweise, ohne dass man voher elementare „Gretchenfragen“ entschieden hat. Die zentral gespeicherten Daten werden durchsuchbar und automatisch auswertbar gemacht, auch wenn man das mit dem Datenschutz bisher nicht hinbekommen hat. Man verspricht, dass das künftig besser wird, auch wenn bisher die Technik, die man implementiert hat, so gut wie kein Versprechen gehalten hat.

Ich würde sagen, die These von Andreas Meißner, dass es hier nicht um die Interessen der Patienten geht, sondern um Geschäftsmodelle der IT- und Gesundheitsbranchen, ist durch dieses Interview des Gematik-Chefs eindrucksvoll untermauert.

Weltwirtschaftsforum markiert das Ziel

Wenn man wissen will, wo die Digitalisierung des Gesundheitswesens hinführen soll, schaut man am Besten beim Weltwirtschaftsforum nach, der Interessenvertretung der größten internationalen Konzerne, die sich selbst „die internationale Organisation für öffentlich-private Partnerschaft“ nennt. Denn das Weltwirtschaftsforum konzentriert sich mit großem Erfolg darauf, die Politik von Regierungen und internationalen Organisationen im Sinne des Gewinnerzielungsinteresses der Konzerne zu beeinflussen. Viele Dutzend der einflussreichsten Regierungschefs und Hunderte Minister machen der Konzernvertretung jeden Winter in Davos ihre Aufwartung, die Weltgesundheitsorganisation wäre ohne das Geld der Konzerne nicht arbeitsfähig.

Das Forum hat aus Ministern, Professoren und Konzernvertretern des Gesundheitswesens eine Global Coalition for Health Systems Transformation gebildet, um „private und öffentliche Gesundheitsinitiativen durch öffentlich-private Partnerschaften rund um die Welt auf Wertschöfpung (value) zu trimmen“, und so die Gesundheitssysteme effizienter zu machen. Diese „Globale Koalition“ ist Teil der Platform for Shaping the Future of Health and Healthcare des Forums, deren erklärtes Ziel es ist, „Gesundheitssysteme radikal zu transformieren“ und das „nicht nachhaltige, kapitalintensive und ineffektive krankenhauszentrierte System“ durch „ein datengestütztes Leistungssystem und virtuelle Behandlung“ zu ersetzen. Die „4. Industrielle Revolution“ soll genutzt werden, um das Gesundheitssystem zu transformieren.

Die 4. Industrielle Revolution ist ein vom Weltwirtschaftsforum und dessen Chef, Klaus Schwab, vertretenes Konzept, das das Verschmelzen von Mensch, künstlicher Intelligenz und Technik propagiert.

Auf der Webseite des Weltwirtschaftsforums ist seit August 2022 ein Beitrag zu lesen, der unter dem Titel „Augmented tech can change the way we live, but only with the right support and vision“ folgendes propagiert:

„Implantierte Technologie könnte künftig die Norm werden. Die Interessenträger der Gesellschaft werden sich einigen müssen, wie sie diese phantastischen Technologien auf ethische Weise zum Teil unseres Lebens machen.  (…) So beängstigend Chip-Implantate auch klingen mögen, sie sind Teil einer natürlichen Entwicklung, die Wearables einst durchliefen.“

Was in der (kleinen) kritischen Öffentlichkeit Aufsehen erregte, war vor allem folgende Passage:

„Die Grenzen für Implantate werden eher durch ethische Argumente als durch wissenschaftliche Kapazitäten gesetzt. Sollte man beispielsweise seinem Kind einen Ortungschip implantieren? Dafür gibt es solide, rationale Gründe, wie die Sicherheit.“

Selbst eine Technik, die bestimmt, was wir wahrnehmen und was wir nicht wahrnehmen wird angepriesen, als Hilfe für manche Kinder natürlich nur:

„Viele Kinder mit Aufmerksamkeitsdefiziten haben in der Schule Schwierigkeiten. (…) Mit zusätzlichen visuellen und akustischen Hilfsmitteln, die überschüssige Reize abschirmen, kann so ein Kind in einer normalen Schulumgebung zurechtkommen. Und wenn der Unterricht vorbei ist und die Spielzeit beginnt, können sie die Hilfsmittel einfach abnehmen.“

Wollen wir wirklich, dass unsere Kinder mit Gerätschaften aufwachsen, die ihre Wahrnehmung fremdbestimmen. Denn eines dürfte klar sein: Wenn man so besser lernt, wird das zur Norm. In die Agenda der IT- und Gesundheitskonzerne im Weltwirtschaftsforums passt das auf jeden Fall. Und das „kapitalintensive“ Krankenhaussystem kann man auch stark reduzieren, wenn man direkt im Gehirn der Menschen steuern kann und bestimmt, was sie wahrnehmen und wollen. Auch viele andere kapitalintensive öffentliche Dienstleistungen kann man dann reduzieren.

Teil 1 der Besprechung: Pro

Teil 2 der Besprechung: Contra

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12.09.2022 – Norbert Häring

12. 09. 2022 | Ein Interview mit dem Chef des für die Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens zuständigen Staatsunternehmens Gematik und ein Text des Weltwirtschaftsforums machen aus meiner Sicht recht gut deutlich, dass die Gegner der zwangsweisen Digitalisierung auf ganzer Linie Recht haben.

Den Pro-Part in dem Buch „Digitalisierung der Gesundheit“ hatte der Gefäßchirurg und ehemalige Ärztefunktionär Franz Bartmann geschrieben, den Contra-Part der Psychiater und Psychotherapeut Andreas Meißner. Bartmann hatte vor allem auf zusätzliche Daten für die Wissenschaft und bessere Information von (Notfall-)Medizinern über Behandlungen und Medikamenteneinnahme abgestellt und die Bedenken in Sachen Datenschutz als demgegenüber nicht so bedeutsam beiseite gewischt.

Meißner hatte auf diese abgestellt und auf die Verschlechterung des Arzt-Patienten-Verhältnisses, sowie generell die damit vorangetriebene Enthumanisierung und Technisierung der Versorgung. Außerdem sei die zwangsweise Digitalisierung der Arzt- und Therapeutenpraxen zu teuer. Das Geld fehle für bereits bekannte dringende Aufgaben. Die Pro-Argumente hat er nicht gelten lassen, weil die digitalen Lösungen das nicht leisteten, was sie versprechen. Weder bei Ärzten, noch bei Patienten gäbe es mehrheitlich eine Nachfrage nach mehr Digitalisierung, weshalb diese auch weitgehend an der allgemeinen Öffentlichkeit vorbei vorangetrieben werde.

Ich habe bereits durchblicken lassen, wer mich mehr überzeugt hat. Anstatt eines Resümees will ich daher den Chef der Gematik in einem kürzlich veröffentlichten Interview sprechen lassen, sowie das Weltwirtschaftsforum, das als überaus mächtige Lobby der großen internationalen Konzerne der IT- und Pharmabranchen, die Digitalisierung des Gesundheitswesens maßgeblich vorantreibt.

Zum Einstieg eine kurze Meldung zum Niveau des Datenschutzes von August 2022: Sicherheitsexperten des Chaos Computer Clubs (CCC) haben mit einen erfolgreichen Angriff auf gängige Lösungen für Identifizierungsverfahren per Video (Videoident) dafür gesorgt, dass die Krankenkassen dieses seit 2021 genutzte Verfahren nun auf Anweisung der Gematik nicht mehr nutzen dürfen. Hacker des CCC hatten sich unter anderem Zugriff auf die elektronische Patientenakte einer Testperson verschafft. Laut CCC konnte man mit geringem Aufwand für eine beliebige Auswahl der 73 Millionen gesetzlich Versicherten eine elektronische Patientenakte (ePA) eröffnen und darüber Gesundheitsdaten anfordern, die in Arztpraxen, Krankenhäusern und bei Krankenkassen gespeichert sind. Bei einer genaueren Prüfung der elektronischen Rezeptes stellten Sicherheitsforscher des CCC fest, dass medizinische Gesundheitsdaten im Klartext gespeichert werden, dass die Verfügbarkeit und Einlösbarkeit des E-Rezepts u.a. bei Störfällen mangelhaft sind und der Datenschutz ein schlechter Witz.

Gematik-Chef macht Telematik-Infrastruktur schlecht

Im Interview mit E-Health-Com Ende Juli 2022 sagte der Chef der Gematik, Markus Leyck Dieken sehr viel Interessantes. (Das ist der, der Jens Spahn eine Wohnung verkauft hat, bevor dieser ihn auf den Job berief.)

Zum Thema Diskussion mit der Öffentlichkeit:

„Die Gematik ist eine sich der Öffentlichkeit zeigende, exponierende Agentur für Deutschland.“

Schön wärs. Sucht man nach Interviews, findet man fast nur Interviews mit Ärzte- und Branchenfachmedien, aber ganz ganz wenig für die breite Öffentlichkeit.

Zur Kritik an der Technik (Telematik Infrastruktur oder TI), die den Ärzten aufgezwungen wurde und die die gesetzliche Versicherten (wieder mal nur die) teuer bezahlen mussten:

„Die TI 2.0 ist die Lehre aus den letzten zwei Jahren. Wir haben uns angesehen, warum das, was wir in Deutschland als TI implementiert haben, so hölzern, so träge und, ja, auch so fehleranfällig ist. Und da wurde schnell klar, wir können mit dieser Infrastruktur niemals die Anforderungen der Zukunft erfüllen. (…) Den nach im Versorgungskontext nutzbaren Daten können wir mit der aktuellen Technik gar nicht erfüllen. (…) Der Gesellschafterkreis hat entschieden, zunächst einen Beschluss zu fällen, der den Konnektoraustausch insgesamt in Deutschland vorsieht. Das wird sich jetzt über mehrere Jahre hinziehen. Nun kommen aber noch weitere Faktoren dazu. Erstens Chipmangel.. Ich glaube, dass wir in der Mitte des Weges eine andere Lösung finden werden und keineswegs in jeder deutschen Praxis noch mal ein Techniker zu Besuch kommen muss.. (…) Unsere bisherige Programmierung basiert auf Sütterlin-Schrift, die es so in keinem anderen Land der Welt gibt.“

Mit anderen Worten. Die Kritik an dem, was den Ärzten und Patienten bisher aufgezwungen wurde, war mehr als berechtigt. Die Daten sind für die ärztliche Versorgung nicht nutzbar. Aber jetzt machen wir alles neu und diesmal machen wir das super.

Ohne jede Rücksicht darauf, oder gar Erwähnung, dass das Bundesverfassungsgericht eine einheitliche digitale Identität der Bürger für alle Zwecke aus Datenschutzgründen für unzulässig erklärt hat, stichelt der Gematik-Chef gegen jede Form der Trennung von Identifizierungsverfahren für verschiedene Zwecke:

„Ich gehe davon aus, dass mit einem bis zwei Quartalen Verzögerung alle Versicherten eine eID bekommen. Die eID ist im Prinzip so etwas wie das Eintrittstor für neue digitale Angebote. In vielen europäischen Ländern haben die Bürger:innen nur eine einzige Identität. Deutschland konnte sich bislang nicht dafür entscheiden, dass das Zivilleben und das Gesundheitsleben eine gemeinsame digitale Identität bekommen. Da gibt es Gespräche aktuell, wir haben auch ein Auge auf diese Gespräche, aber die Einschätzung ist im Moment immer noch die aus Zeiten Otto Schilys und Ulla Schmidts, wonach wir uns in Deutschland für getrennte IDs entscheiden sollten.“

Man bedenke: Wenn alles an der einen digitalen Identität hängt, sind auch alle Daten über eine Person über diese Identität abzurufen. Viele der angeblich sicheren Identitätsdatenbanken sind geknackt worden, andere werden es sicherlich noch. Ein Passowort kann man in einem solchen Fall wechseln, seine Identität nicht.

Der Gematik-Chef freut sich sehr über den Entwurf für die Verordnung des Europäischen Gesundheitsdatenraums (EHDS):

„Die EHDS-Verordnung macht deutlich, dass bei Gesundheitsdaten der Nutzen stärker in den Vordergrund gerückt werden muss und kein reiner Risikodiskurs geführt werden darf.“

Mit anderen Worten: Der Datenschutz soll gerade im Gesundheitswesen, wo er besonders dringlich ist, zurückgefahren werden.

Und noch mehr freut er sich darüber, dass im Koalitionsvertrag der  Regierungsparteien der Übergang zum Opt-out-Modell vereinbart ist, bei dem jeder eine elektronische Patientenakte (ePA) bekommt, der nicht ausdrücklich widerspricht:

„Wir freuen uns sehr! Das ist eine mutige politische Entscheidung, und es ist die erste Opt-out-Entscheidung im deutschen Gesundheitswesen. Wichtig zu verstehen ist, dass es beim Thema Opt-out nicht um die jetzige ePA geht. Die Opt-out-ePA hat eine ganz andere Verfassung, auch technischer Natur. (…) Das kann nicht einfach ein PDF-Kanister sein, zu dem die Bürger:innen dann halt automatisch angemeldet werden, statt sich aktiv anmelden zu müssen. Eine Opt-out-ePA braucht eine weitgehend dezentralisierte Architektur, bei der ich als Arzt bestimmte definierte Daten und Dokumente automatisch ablege und für den Zugriff freigebe. Das ist ein völlig neuer Ansatz. Wir werden dafür eine moderne Verschlüsselungstechnologie benötigen, die wir bei der aktuellen ePA nicht nutzen. Wir brauchen die eID und (…) strukturierte Daten, die von den Leistungserbringern abgegriffen werden können. (…)  Viele der Gretchenfragen, die sich bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens stellen, müssen dafür definitiv beantwortet werden, während wir diese Fragen bis jetzt oft einfach vor uns hergeschoben haben.“

Mit anderen Worten: Hier wird voranmarschiert, zwangsweise, ohne dass man voher elementare „Gretchenfragen“ entschieden hat. Die zentral gespeicherten Daten werden durchsuchbar und automatisch auswertbar gemacht, auch wenn man das mit dem Datenschutz bisher nicht hinbekommen hat. Man verspricht, dass das künftig besser wird, auch wenn bisher die Technik, die man implementiert hat, so gut wie kein Versprechen gehalten hat.

Ich würde sagen, die These von Andreas Meißner, dass es hier nicht um die Interessen der Patienten geht, sondern um Geschäftsmodelle der IT- und Gesundheitsbranchen, ist durch dieses Interview des Gematik-Chefs eindrucksvoll untermauert.

Weltwirtschaftsforum markiert das Ziel

Wenn man wissen will, wo die Digitalisierung des Gesundheitswesens hinführen soll, schaut man am Besten beim Weltwirtschaftsforum nach, der Interessenvertretung der größten internationalen Konzerne, die sich selbst „die internationale Organisation für öffentlich-private Partnerschaft“ nennt. Denn das Weltwirtschaftsforum konzentriert sich mit großem Erfolg darauf, die Politik von Regierungen und internationalen Organisationen im Sinne des Gewinnerzielungsinteresses der Konzerne zu beeinflussen. Viele Dutzend der einflussreichsten Regierungschefs und Hunderte Minister machen der Konzernvertretung jeden Winter in Davos ihre Aufwartung, die Weltgesundheitsorganisation wäre ohne das Geld der Konzerne nicht arbeitsfähig.

Das Forum hat aus Ministern, Professoren und Konzernvertretern des Gesundheitswesens eine Global Coalition for Health Systems Transformation gebildet, um „private und öffentliche Gesundheitsinitiativen durch öffentlich-private Partnerschaften rund um die Welt auf Wertschöfpung (value) zu trimmen“, und so die Gesundheitssysteme effizienter zu machen. Diese „Globale Koalition“ ist Teil der Platform for Shaping the Future of Health and Healthcare des Forums, deren erklärtes Ziel es ist, „Gesundheitssysteme radikal zu transformieren“ und das „nicht nachhaltige, kapitalintensive und ineffektive krankenhauszentrierte System“ durch „ein datengestütztes Leistungssystem und virtuelle Behandlung“ zu ersetzen. Die „4. Industrielle Revolution“ soll genutzt werden, um das Gesundheitssystem zu transformieren.

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Selbst eine Technik, die bestimmt, was wir wahrnehmen und was wir nicht wahrnehmen wird angepriesen, als Hilfe für manche Kinder natürlich nur:

„Viele Kinder mit Aufmerksamkeitsdefiziten haben in der Schule Schwierigkeiten. (…) Mit zusätzlichen visuellen und akustischen Hilfsmitteln, die überschüssige Reize abschirmen, kann so ein Kind in einer normalen Schulumgebung zurechtkommen. Und wenn der Unterricht vorbei ist und die Spielzeit beginnt, können sie die Hilfsmittel einfach abnehmen.“

Wollen wir wirklich, dass unsere Kinder mit Gerätschaften aufwachsen, die ihre Wahrnehmung fremdbestimmen. Denn eines dürfte klar sein: Wenn man so besser lernt, wird das zur Norm. In die Agenda der IT- und Gesundheitskonzerne im Weltwirtschaftsforums passt das auf jeden Fall. Und das „kapitalintensive“ Krankenhaussystem kann man auch stark reduzieren, wenn man direkt im Gehirn der Menschen steuern kann und bestimmt, was sie wahrnehmen und wollen. Auch viele andere kapitalintensive öffentliche Dienstleistungen kann man dann reduzieren.

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