Die Angst der Pfarrer

  • 03. September 2022  – 
  • Rubikon

Die Angst der Pfarrer

03.09.2022 – Rubikon

Die Angst der Pfarrer

Statt Haltsuchenden die Furcht zu nehmen, verbreiten die kirchlichen Gottesdiener das Virus der Angst.

Juden und Christen sind Anhänger einer Straßenreligion. Alttestamentarische Propheten und der Mann aus Nazareth sind Straßenheilige. Ohne Rücksicht auf Ansehen und Akzeptanz in den Palästen und Tempelanlagen. Spirituelle Männer ohne Angst. Das war einmal.

Unsere Pfarrer aber haben wohl in ihrer absoluten Mehrheit mehr Angst im Leben als die ihnen zu ihrem Seelenheil anvertrauten Schafe. Aber interessiert das überhaupt jemanden? Es würde die mit NLP vertrauten Schafe nicht wundern. Schließlich trägt niemand so oft und so deutlich das Wort Angst auf der Zunge wie diese verkleideten Angstfunktionäre. Da höhlt ein stetiger Gebrauch des Wortes, gefragt und ungefragt, jede feste Burg gegen die Lebensangst.

Die Pfarrer sind vielleicht sogar die heimlichen und unbewussten Überträger dieses ausgesucht teuflischen Virus: Angst! Angst, die bekanntlich die Seele auffrisst.

Ausgerechnet also die, die die Seele mit ihrer speziellen Medikation vor der alles zerstörenden Angst schützen sollen, sind die Überträger.

Es könnte also auch so ein völlig unerwartetes Ergebnis der Coronakrise sein, dass wir erkennen, in den Kirchen zwar keine Böcke zum Gärtner, aber Angsthasen zu Hirten gemacht und ordiniert zu haben. Und das schon über Jahrhunderte. Es könnte also sein, dass der scheinbar unaufhaltsame Brain- beziehungsweise Trustflow aus unseren Kirchen nicht an den dummen und vom Teufel verführten Schafen liegt, sondern an den falschen Hirten? Und das sind eben nicht nur die, die aktuell im zwielichtigen Kontext als Schwarze Schafe unter den Geistlichen ausgemacht wurden. Corona also als Lackmustest für die Existenzberechtigung der real existierenden großen Kirchen mit ihrem besonderen Personal. Woran macht man das fest? Und ist das wichtig?

Wenn es wichtig ist, dass diese Coronakrise aufzeigt, dass eine Gesellschaft ohne Spiritualität, die das Leben in all seinen Ausprägungen als heilig und unantastbar begreift, zum Untergang ansteht, wer hilft ihr wieder auf einen Weg zurück, der die Wahrheit und das Leben ausmacht?

Wer steht mit den jahrtausendealten Ritualen und Weisheiten angstfrei und ermutigend am Rand eines einzelnen Lebensweges und bleibt und tröstet, wenn alle anderen weglaufen?

Wie sehen die Dörfer und Städte der Zukunft aus, in denen aus den Steinen und Ruinen der alten Kirchen neue Konsumtempel gebaut werden? Und welche hartnäckige Institution beharrt darauf, dass Wissenschaft und Technik für die Zukunft eben nicht das Sagen haben dürfen, weil sie die Komplexität der Wirklichkeit, die Empfindsamkeit der Seelen und die Poesie des Lebens per se gar nicht umfassen können?

Wir brauchen wohl, wie jede Kultur, ebenso tiefe wie unwissenschaftliche Wurzeln, die uns tragen. Aber wer sie uns zeigt und mit uns übt, muss jemand sein, der im Grunde nicht mehr Angst hat als wir, sondern tendenziell weniger.

Wenn aber 20 Prozent der Pflegekräfte in unserem Land sich nicht impfen lassen und auch circa 20 Prozent der Bevölkerung zu einer kritischen Betrachtung der staatlichen Coronamaßnahmen neigen und sich keine Angst einjagen lassen und demonstrieren, wo bleiben in diesen Montagsspaziergängen die doch statistisch zu erwartenden circa 20 Prozent der Geistlichkeit? Wo bleiben die Hundertschaften von Pfarrerinnen und Pfarrern auf der Straße? Wo waren diese in Berlin unter den Wasserwerferattacken der Polizei? Angepöbelt von Frau Eskens und anderen. Fehlanzeige! Ein Scherflein von sieben Aufrechten hat man recherchiert, mehr sind es nicht. Oder haben uns die großen Medien den Protest der Protestanten unterschlagen? Dann wäre ja noch Hoffnung da.

Ist die beamtete Geistlichkeit einfach dem gemeinen Volk durch Bildung überlegen oder ist es tatsächlich eine übergroße Kultur der Angst und Unterwerfung, die sie prägt? Es spricht alles für das Letztere.

Wenn Vater Staat verbietet, die Alten, Behinderten und Sterbenden zu besuchen, also massiv eingreift in das Alleinstellungsmerkmal der Pfarrer und Kirchen und in das, was sie in unserer Kultur eigentlich einmalig macht, und sie gehorchen durch die Bank, wie kommt das? Welcher unsichtbare Elektroschocker teasert da durch die Luft?

Wenn nun, wie jetzt, Tausende und Abertausende von Pfarrerinnen und Pfarrern auf Kommando in vorlaufendem Gehorsam ihre Kirchen Kirchen sein lassen und die Urmutter der Gemeinde, die real existierende Ecclesia, die leibliche Gemeinschaft der Gläubigen aufgeben beziehungsweise verraten, um stattdessen von zuhause aus im Home-Churching den Sterbenden in einer Art Fernkursus „Sterben für Anfänger“ übers Handy anzubieten, was ist da los? Vor wem oder was haben sie Angst? Vor der Polizei, die sie von der feierlichen Ausübung der Sterbesakramente wegzerrt? Vor einem Strafbefehl? Vor einem Disziplinarverfahren mit möglichen Gehaltkürzungen? Vor einem Ansehensverlust, also einem Schwinden gesellschaftlicher Anerkennung?

Angst vor Coronaansteckung dürften sie im Grunde nicht haben. Dies ließe weder ihr Meister aus Nazareth zu noch ein kritischer Blick in die Statistik. Beides sind im Grunde religiöse Modelle, um mit der Angst fertigzuwerden.

Eugen Drewermann hat vor Jahren schon darauf hingewiesen, dass mehr Muttersöhnchen unter den Talaren stecken als sonst in der Gesellschaft proportional vorkommen. Und so trägt man in liturgischen Gewändern, die den Kleidern der eigenen Mütter sehr, sehr nahekommen, die Ansicht vor, dass man sich unter den Gewändern und Flügeln von Mutter Kirchen verkriechen kann und so niemanden mehr fürchten müsse. Jetzt ist nicht mehr der ferne Jesus ihr Zufluchtsort, sondern die nahe Kirche. Da hat Drewermann schon weit vor Coronazeiten etwas Grundlegendes zum Pfarrerstand erkannt. Es ist ein Stand von „Mutterkirche-Söhnchen“.

Nun, die katholischen Brüder im Amt müssen ja auch gar nicht mutig sein. Das wird nicht von ihnen erwartet. Sie sollen es nicht einmal. Darauf werden sie nicht eingeschworen. Sie müssen nur gehorchen. Darauf werden sie geeicht. Eben wie ein Sohn seiner übergriffigen Mutter gehorcht, die ihn an sich binden will. Dazu haben sich die Priester per Gelöbnis verpflichtet. Und jedermann wundert sich, wie schwer sie sich tun, gegen die übergriffige Mutter das Wort zu erheben geschweige denn den Arm, wenn wieder und wieder einmal einer von ihnen mit Dreck am Stecken unter den schön und unschuldig weiß gestärkten Schürzen der Mutter sein Versteck findet. Mama wird es schon richten.

Und genauso wie bei der überproportionalen Angst des Pfarrerstandes kommt bei der katholischen Fraktion das Entsetzen dazu, dass sie nicht genauso viel Sexualstraftäter in ihren Reihen haben wie alle anderen Reihen in der Gesellschaft auch, sondern mehr! Viel mehr! Weit mehr! Denn wo nicht über Sexualität geredet wird, kann man seine Neigung gut verstecken.

Kirche als Karriereleiter für Sexualstraftäter genauso wie Kirche als Karriereleiter für von Angst Besessenen?

Genau das trifft mehr oder minder bei der protestantischen Fraktion verstärkt zu. Bei denen kommt nämlich verschärfend hinzu, dass sie zwar nicht Gehorsam gegenüber dem Bischof geloben müssen, wohl aber auf Texte, die von ihnen außerordentlichen Mut verlangen, eingeschworen werden. Es sind Texte, die im Faschismus ausformuliert wurden und nun quasi eine erweiterte Bibel darstellen, auf die man ordiniert wird. Das hat was Soldatisches. Aber es hilft alles nichts. NLP lässt wieder grüßen.

Die „Freiheit eines Christenmenschen“ verraten sie durch die Bank, wenn sie in Konflikt mit der Obrigkeit daherkommt. Und wer das nicht gleich kapiert hat und sich himmelblauäugig zu sehr auf die tapferen Bekenntnisschriften beruft, dem macht die Kirchenbehörde bald klar, dass Pfarrer sich in der Kritik am Staat zurücknehmen müssen. Das ist zwischen Kirchenobrigkeit und Staat so verabredet. Und kostet bei Ungehorsam wie bei allen Beamten Punktabzüge am Monatsende. Unsere Pfarrer sind Beamte. Beamte im Reich Gottes.

Seit das Christentum im Alten Rom zur Staatsreligion wurde, hängt der Schatten über ihrer Jesusnachfolge. Dogma und Macht gehen eine Ehe ein, der sich kaum ein Nachkomme durch Ungehorsam entziehen kann.

Allein an den Rändern dieser Historie sammeln sich hin und wieder die ungehorsamen Häretiker und versuchen, im Versteck einsamer Alpentäler (Waldenser), französischer Hochplateaus (Shaker), Schweizer Eigenbrötlereien (Amish People) und böhmischer „Hinter-den-sieben-Bergen-Belanglosigkeit“ (Hussiten) ein anderes herrschaftskritisches brüderliches Christentum zu leben. Kein Wunder also, dass Coronamaßnahmenkritik eher in unseren „Freikirchen“ zu Wort kam.

Wem das zu weit hergeholt erscheint, der beobachte einfach seine Alltagserfahrung mit Geistlichkeit.

Denn wenn die Auswahl des Pfarrernachwuchses schon ihre Probleme hat, dann hat es das berufliche Wirken der Pfarrer allemal. Warum lesen die ihre wöchentlichen Liebesgeschichten mit dem lieben Gott, Sonntagspredigt genannt, immer ab? Welcher Liebende und welche Liebende tut sowas? Reden die Verliebten nicht unmittelbar von Herz zu Herz miteinander und erzählen sich wieder und wieder ihre nie langweilige Geschichte? Was hindert die beamtete Pfarrerschaft, genauso frank und frei von der Liebe Gottes zu erzählen und die darauf entstehende Freiheit und Ermutigung dadurch unmittelbar zu bezeugen?

Antwort: Sie haben Angst! Angst, dass das, was sie da auf den Kanzeln vortragen, nicht deckungsgleich mit den Ansichten der Bischöfe und Theologieprofessoren ist. Angst davor, dass ein Gemeindemitglied sie bei der kirchlichen Obrigkeit verpfeift. Angst vor der Obrigkeit überhaupt, Angst vor Ansehensverlusten. Angst vor Konflikten. Sie haben Angst vor möglichen Verwundungen und Schmerzen.

Sie sind alle keine Lebemeister. Sie sind Lesemeister, keine Lebensmeister, wie es Meister Eckehard, der große deutsche Mystiker und Denker, auf den Punkt brachte. Lieber lesen als eigene Erfahrungen zulassen. Das erinnert schon etwas an Pornografie.

Ich habe über Jahre mit meinen Schwestern und Brüdern im Amt in Workshops daran gearbeitet, sie von ihrer Versessenheit auf „Kanzelkondome“ zu befreien, auf Redemanuskripte, die ihnen eher Sicherheit garantieren, als dass sie auf die Fruchtbarkeit ihrer eigenen Worte vertrauen. Sicherheit vor ihrer Angst, den Faden des Gehorsams zu verlieren und endlich ihrer individuellen Freiheit und Spiritualität freien Lauf zu lassen. Das waren, wenn uns das gelang, wahre Wiedergeburten von in vielen Berufsjahren geknechteten Seelen. Die Ausgabe war einfach. Sie sollten erzählen, welcher Verstorbene aus ihrem persönlichen Umfeld sie liebt. Geschichten zwischen Himmel und Erde, die sie auf keinem Pfarrkonvent der Welt hätten erzählen können, ohne verlacht und verachtet zu werden. Zu viel Herz, zu unwissenschaftlich. Zu viel Auferstehung also.

Wenn man dann ihre sogenannten Predigten genauer inhaltlich studiert, kommt die Angst der Pfarrer noch dicker. Sie begründen das, was sie sagen, weniger mit ihrem Herzen, sondern meist mit Autoritäten und Bibelzitaten. Je mehr, desto besser. Mit der Bibel ist man immer auf der sicheren Seite. Als wenn die sichere Seite ein Ziel wäre. Unangreifbar, es gilt das geschriebene Wort. Mit einem Lastwagen voller Richtigkeiten schleppen sie sich auf die Kanzel und schütten alles ungefragt vor den Herzen der Gläubigen aus. Unter ihnen aber sitzen Gottsucher, die ohnehin nur zwei Herzkammern zum Aufsammeln dabeihaben, um dies oder das aufzupicken und zufrieden zu sein. Fehler, vom Konzept abweichen, gar den roten Faden verlieren: Alles ausgeschlossen. Unangreifbarkeit wird auf einmal zum Zeugnis eines offenbar strafenden Gottes. Da können sie dementieren, was sie wollen. Durch ihre fehlerfreien Worte schimmert die Angst.

Ihre Reden und Predigten zeugen also nicht von der Freiheit eines Gotteskindes. Sie erzählen nur davon. Zeugen und Bezeugen hieße nämlich, etwas Eigenes erlebt zu haben, von dem einem das Herz voll ist und der Mund übergeht.

Aber wir sind eine Kirche geworden, die, im Gegensatz zu unserer älteren Jüdischen Schwester, nicht auf eigene oder kollektive Erfahrung setzt, sondern auf Worte allein. Das ist ein himmelweiter Unterschied.

Keiner kann seine spirituellen Erinnerungsfeste so feiern wie unsere Jüdischen Schwestern und Brüder. Sie bauen einmal im Jahr mit ihren Kindern noch im schlimmsten New York auf dem Balkon kleine Hütten aus Zweigen und Laub, um gemeinsam hineinzukriechen, um dort die Nacht zu verbringen. Und dabei erzählen sie, dass ihre Vorfahren immer so lebten: Unter dem Himmel! Mit dem Himmel! Das prägt wie Konrad Lorenz seine Gänse. Sie fasten, sie tanzen und leben das Lieben und das Leiden. Besonderes Essen und Trinken als spiritueller Akt.

Der Protestant aber darf sich an all dem Gefeiere, am Lieben und Leiden nicht festmachen. Ekstase und möglicher Kontrollverlust, wie es schon dem weinseligen Rabbi von Nazareth nachgesagt wurde, ist nichts für obrigkeitshörige Protestanten. Für sie zählt und wirkt allein der abstrakte Glaube, den man als mütterlich schützenden Gehorsam erlebt. Und genau der nimmt jedem jede Freiheit und die Notwendigkeit eigener Erfahrungen. Wir sind eine Religion geworden, die das Erleben des eigenen Lebens gar nicht braucht. Wir sind eine Religion ohne Leib und Unterleib, die allein noch jede Revolte in Gang setzten.

Der Abstieg Jesu aus der Gottesnähe in die Fleischlichkeit des Lebens und der Straße steht bei uns noch aus.

Darauf allein aber liegt der Segen des Rabbis von der Straße.

von Jürgen Fliege

Die Angst der Pfarrer

03.09.2022 – Rubikon

Die Angst der Pfarrer

Statt Haltsuchenden die Furcht zu nehmen, verbreiten die kirchlichen Gottesdiener das Virus der Angst.

Juden und Christen sind Anhänger einer Straßenreligion. Alttestamentarische Propheten und der Mann aus Nazareth sind Straßenheilige. Ohne Rücksicht auf Ansehen und Akzeptanz in den Palästen und Tempelanlagen. Spirituelle Männer ohne Angst. Das war einmal.

Unsere Pfarrer aber haben wohl in ihrer absoluten Mehrheit mehr Angst im Leben als die ihnen zu ihrem Seelenheil anvertrauten Schafe. Aber interessiert das überhaupt jemanden? Es würde die mit NLP vertrauten Schafe nicht wundern. Schließlich trägt niemand so oft und so deutlich das Wort Angst auf der Zunge wie diese verkleideten Angstfunktionäre. Da höhlt ein stetiger Gebrauch des Wortes, gefragt und ungefragt, jede feste Burg gegen die Lebensangst.

Die Pfarrer sind vielleicht sogar die heimlichen und unbewussten Überträger dieses ausgesucht teuflischen Virus: Angst! Angst, die bekanntlich die Seele auffrisst.

Ausgerechnet also die, die die Seele mit ihrer speziellen Medikation vor der alles zerstörenden Angst schützen sollen, sind die Überträger.

Es könnte also auch so ein völlig unerwartetes Ergebnis der Coronakrise sein, dass wir erkennen, in den Kirchen zwar keine Böcke zum Gärtner, aber Angsthasen zu Hirten gemacht und ordiniert zu haben. Und das schon über Jahrhunderte. Es könnte also sein, dass der scheinbar unaufhaltsame Brain- beziehungsweise Trustflow aus unseren Kirchen nicht an den dummen und vom Teufel verführten Schafen liegt, sondern an den falschen Hirten? Und das sind eben nicht nur die, die aktuell im zwielichtigen Kontext als Schwarze Schafe unter den Geistlichen ausgemacht wurden. Corona also als Lackmustest für die Existenzberechtigung der real existierenden großen Kirchen mit ihrem besonderen Personal. Woran macht man das fest? Und ist das wichtig?

Wenn es wichtig ist, dass diese Coronakrise aufzeigt, dass eine Gesellschaft ohne Spiritualität, die das Leben in all seinen Ausprägungen als heilig und unantastbar begreift, zum Untergang ansteht, wer hilft ihr wieder auf einen Weg zurück, der die Wahrheit und das Leben ausmacht?

Wer steht mit den jahrtausendealten Ritualen und Weisheiten angstfrei und ermutigend am Rand eines einzelnen Lebensweges und bleibt und tröstet, wenn alle anderen weglaufen?

Wie sehen die Dörfer und Städte der Zukunft aus, in denen aus den Steinen und Ruinen der alten Kirchen neue Konsumtempel gebaut werden? Und welche hartnäckige Institution beharrt darauf, dass Wissenschaft und Technik für die Zukunft eben nicht das Sagen haben dürfen, weil sie die Komplexität der Wirklichkeit, die Empfindsamkeit der Seelen und die Poesie des Lebens per se gar nicht umfassen können?

Wir brauchen wohl, wie jede Kultur, ebenso tiefe wie unwissenschaftliche Wurzeln, die uns tragen. Aber wer sie uns zeigt und mit uns übt, muss jemand sein, der im Grunde nicht mehr Angst hat als wir, sondern tendenziell weniger.

Wenn aber 20 Prozent der Pflegekräfte in unserem Land sich nicht impfen lassen und auch circa 20 Prozent der Bevölkerung zu einer kritischen Betrachtung der staatlichen Coronamaßnahmen neigen und sich keine Angst einjagen lassen und demonstrieren, wo bleiben in diesen Montagsspaziergängen die doch statistisch zu erwartenden circa 20 Prozent der Geistlichkeit? Wo bleiben die Hundertschaften von Pfarrerinnen und Pfarrern auf der Straße? Wo waren diese in Berlin unter den Wasserwerferattacken der Polizei? Angepöbelt von Frau Eskens und anderen. Fehlanzeige! Ein Scherflein von sieben Aufrechten hat man recherchiert, mehr sind es nicht. Oder haben uns die großen Medien den Protest der Protestanten unterschlagen? Dann wäre ja noch Hoffnung da.

Ist die beamtete Geistlichkeit einfach dem gemeinen Volk durch Bildung überlegen oder ist es tatsächlich eine übergroße Kultur der Angst und Unterwerfung, die sie prägt? Es spricht alles für das Letztere.

Wenn Vater Staat verbietet, die Alten, Behinderten und Sterbenden zu besuchen, also massiv eingreift in das Alleinstellungsmerkmal der Pfarrer und Kirchen und in das, was sie in unserer Kultur eigentlich einmalig macht, und sie gehorchen durch die Bank, wie kommt das? Welcher unsichtbare Elektroschocker teasert da durch die Luft?

Wenn nun, wie jetzt, Tausende und Abertausende von Pfarrerinnen und Pfarrern auf Kommando in vorlaufendem Gehorsam ihre Kirchen Kirchen sein lassen und die Urmutter der Gemeinde, die real existierende Ecclesia, die leibliche Gemeinschaft der Gläubigen aufgeben beziehungsweise verraten, um stattdessen von zuhause aus im Home-Churching den Sterbenden in einer Art Fernkursus „Sterben für Anfänger“ übers Handy anzubieten, was ist da los? Vor wem oder was haben sie Angst? Vor der Polizei, die sie von der feierlichen Ausübung der Sterbesakramente wegzerrt? Vor einem Strafbefehl? Vor einem Disziplinarverfahren mit möglichen Gehaltkürzungen? Vor einem Ansehensverlust, also einem Schwinden gesellschaftlicher Anerkennung?

Angst vor Coronaansteckung dürften sie im Grunde nicht haben. Dies ließe weder ihr Meister aus Nazareth zu noch ein kritischer Blick in die Statistik. Beides sind im Grunde religiöse Modelle, um mit der Angst fertigzuwerden.

Eugen Drewermann hat vor Jahren schon darauf hingewiesen, dass mehr Muttersöhnchen unter den Talaren stecken als sonst in der Gesellschaft proportional vorkommen. Und so trägt man in liturgischen Gewändern, die den Kleidern der eigenen Mütter sehr, sehr nahekommen, die Ansicht vor, dass man sich unter den Gewändern und Flügeln von Mutter Kirchen verkriechen kann und so niemanden mehr fürchten müsse. Jetzt ist nicht mehr der ferne Jesus ihr Zufluchtsort, sondern die nahe Kirche. Da hat Drewermann schon weit vor Coronazeiten etwas Grundlegendes zum Pfarrerstand erkannt. Es ist ein Stand von „Mutterkirche-Söhnchen“.

Nun, die katholischen Brüder im Amt müssen ja auch gar nicht mutig sein. Das wird nicht von ihnen erwartet. Sie sollen es nicht einmal. Darauf werden sie nicht eingeschworen. Sie müssen nur gehorchen. Darauf werden sie geeicht. Eben wie ein Sohn seiner übergriffigen Mutter gehorcht, die ihn an sich binden will. Dazu haben sich die Priester per Gelöbnis verpflichtet. Und jedermann wundert sich, wie schwer sie sich tun, gegen die übergriffige Mutter das Wort zu erheben geschweige denn den Arm, wenn wieder und wieder einmal einer von ihnen mit Dreck am Stecken unter den schön und unschuldig weiß gestärkten Schürzen der Mutter sein Versteck findet. Mama wird es schon richten.

Und genauso wie bei der überproportionalen Angst des Pfarrerstandes kommt bei der katholischen Fraktion das Entsetzen dazu, dass sie nicht genauso viel Sexualstraftäter in ihren Reihen haben wie alle anderen Reihen in der Gesellschaft auch, sondern mehr! Viel mehr! Weit mehr! Denn wo nicht über Sexualität geredet wird, kann man seine Neigung gut verstecken.

Kirche als Karriereleiter für Sexualstraftäter genauso wie Kirche als Karriereleiter für von Angst Besessenen?

Genau das trifft mehr oder minder bei der protestantischen Fraktion verstärkt zu. Bei denen kommt nämlich verschärfend hinzu, dass sie zwar nicht Gehorsam gegenüber dem Bischof geloben müssen, wohl aber auf Texte, die von ihnen außerordentlichen Mut verlangen, eingeschworen werden. Es sind Texte, die im Faschismus ausformuliert wurden und nun quasi eine erweiterte Bibel darstellen, auf die man ordiniert wird. Das hat was Soldatisches. Aber es hilft alles nichts. NLP lässt wieder grüßen.

Die „Freiheit eines Christenmenschen“ verraten sie durch die Bank, wenn sie in Konflikt mit der Obrigkeit daherkommt. Und wer das nicht gleich kapiert hat und sich himmelblauäugig zu sehr auf die tapferen Bekenntnisschriften beruft, dem macht die Kirchenbehörde bald klar, dass Pfarrer sich in der Kritik am Staat zurücknehmen müssen. Das ist zwischen Kirchenobrigkeit und Staat so verabredet. Und kostet bei Ungehorsam wie bei allen Beamten Punktabzüge am Monatsende. Unsere Pfarrer sind Beamte. Beamte im Reich Gottes.

Seit das Christentum im Alten Rom zur Staatsreligion wurde, hängt der Schatten über ihrer Jesusnachfolge. Dogma und Macht gehen eine Ehe ein, der sich kaum ein Nachkomme durch Ungehorsam entziehen kann.

Allein an den Rändern dieser Historie sammeln sich hin und wieder die ungehorsamen Häretiker und versuchen, im Versteck einsamer Alpentäler (Waldenser), französischer Hochplateaus (Shaker), Schweizer Eigenbrötlereien (Amish People) und böhmischer „Hinter-den-sieben-Bergen-Belanglosigkeit“ (Hussiten) ein anderes herrschaftskritisches brüderliches Christentum zu leben. Kein Wunder also, dass Coronamaßnahmenkritik eher in unseren „Freikirchen“ zu Wort kam.

Wem das zu weit hergeholt erscheint, der beobachte einfach seine Alltagserfahrung mit Geistlichkeit.

Denn wenn die Auswahl des Pfarrernachwuchses schon ihre Probleme hat, dann hat es das berufliche Wirken der Pfarrer allemal. Warum lesen die ihre wöchentlichen Liebesgeschichten mit dem lieben Gott, Sonntagspredigt genannt, immer ab? Welcher Liebende und welche Liebende tut sowas? Reden die Verliebten nicht unmittelbar von Herz zu Herz miteinander und erzählen sich wieder und wieder ihre nie langweilige Geschichte? Was hindert die beamtete Pfarrerschaft, genauso frank und frei von der Liebe Gottes zu erzählen und die darauf entstehende Freiheit und Ermutigung dadurch unmittelbar zu bezeugen?

Antwort: Sie haben Angst! Angst, dass das, was sie da auf den Kanzeln vortragen, nicht deckungsgleich mit den Ansichten der Bischöfe und Theologieprofessoren ist. Angst davor, dass ein Gemeindemitglied sie bei der kirchlichen Obrigkeit verpfeift. Angst vor der Obrigkeit überhaupt, Angst vor Ansehensverlusten. Angst vor Konflikten. Sie haben Angst vor möglichen Verwundungen und Schmerzen.

Sie sind alle keine Lebemeister. Sie sind Lesemeister, keine Lebensmeister, wie es Meister Eckehard, der große deutsche Mystiker und Denker, auf den Punkt brachte. Lieber lesen als eigene Erfahrungen zulassen. Das erinnert schon etwas an Pornografie.

Ich habe über Jahre mit meinen Schwestern und Brüdern im Amt in Workshops daran gearbeitet, sie von ihrer Versessenheit auf „Kanzelkondome“ zu befreien, auf Redemanuskripte, die ihnen eher Sicherheit garantieren, als dass sie auf die Fruchtbarkeit ihrer eigenen Worte vertrauen. Sicherheit vor ihrer Angst, den Faden des Gehorsams zu verlieren und endlich ihrer individuellen Freiheit und Spiritualität freien Lauf zu lassen. Das waren, wenn uns das gelang, wahre Wiedergeburten von in vielen Berufsjahren geknechteten Seelen. Die Ausgabe war einfach. Sie sollten erzählen, welcher Verstorbene aus ihrem persönlichen Umfeld sie liebt. Geschichten zwischen Himmel und Erde, die sie auf keinem Pfarrkonvent der Welt hätten erzählen können, ohne verlacht und verachtet zu werden. Zu viel Herz, zu unwissenschaftlich. Zu viel Auferstehung also.

Wenn man dann ihre sogenannten Predigten genauer inhaltlich studiert, kommt die Angst der Pfarrer noch dicker. Sie begründen das, was sie sagen, weniger mit ihrem Herzen, sondern meist mit Autoritäten und Bibelzitaten. Je mehr, desto besser. Mit der Bibel ist man immer auf der sicheren Seite. Als wenn die sichere Seite ein Ziel wäre. Unangreifbar, es gilt das geschriebene Wort. Mit einem Lastwagen voller Richtigkeiten schleppen sie sich auf die Kanzel und schütten alles ungefragt vor den Herzen der Gläubigen aus. Unter ihnen aber sitzen Gottsucher, die ohnehin nur zwei Herzkammern zum Aufsammeln dabeihaben, um dies oder das aufzupicken und zufrieden zu sein. Fehler, vom Konzept abweichen, gar den roten Faden verlieren: Alles ausgeschlossen. Unangreifbarkeit wird auf einmal zum Zeugnis eines offenbar strafenden Gottes. Da können sie dementieren, was sie wollen. Durch ihre fehlerfreien Worte schimmert die Angst.

Ihre Reden und Predigten zeugen also nicht von der Freiheit eines Gotteskindes. Sie erzählen nur davon. Zeugen und Bezeugen hieße nämlich, etwas Eigenes erlebt zu haben, von dem einem das Herz voll ist und der Mund übergeht.

Aber wir sind eine Kirche geworden, die, im Gegensatz zu unserer älteren Jüdischen Schwester, nicht auf eigene oder kollektive Erfahrung setzt, sondern auf Worte allein. Das ist ein himmelweiter Unterschied.

Keiner kann seine spirituellen Erinnerungsfeste so feiern wie unsere Jüdischen Schwestern und Brüder. Sie bauen einmal im Jahr mit ihren Kindern noch im schlimmsten New York auf dem Balkon kleine Hütten aus Zweigen und Laub, um gemeinsam hineinzukriechen, um dort die Nacht zu verbringen. Und dabei erzählen sie, dass ihre Vorfahren immer so lebten: Unter dem Himmel! Mit dem Himmel! Das prägt wie Konrad Lorenz seine Gänse. Sie fasten, sie tanzen und leben das Lieben und das Leiden. Besonderes Essen und Trinken als spiritueller Akt.

Der Protestant aber darf sich an all dem Gefeiere, am Lieben und Leiden nicht festmachen. Ekstase und möglicher Kontrollverlust, wie es schon dem weinseligen Rabbi von Nazareth nachgesagt wurde, ist nichts für obrigkeitshörige Protestanten. Für sie zählt und wirkt allein der abstrakte Glaube, den man als mütterlich schützenden Gehorsam erlebt. Und genau der nimmt jedem jede Freiheit und die Notwendigkeit eigener Erfahrungen. Wir sind eine Religion geworden, die das Erleben des eigenen Lebens gar nicht braucht. Wir sind eine Religion ohne Leib und Unterleib, die allein noch jede Revolte in Gang setzten.

Der Abstieg Jesu aus der Gottesnähe in die Fleischlichkeit des Lebens und der Straße steht bei uns noch aus.

Darauf allein aber liegt der Segen des Rabbis von der Straße.

von Jürgen Fliege


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