Fraglicher Erfolg in Ostafrika

  • 27. September 2022  – 
  • Rubikon

Fraglicher Erfolg in Ostafrika

27.09.2022 – Rubikon

Fraglicher Erfolg in Ostafrika

Kolonialisierung und Coronapolitik haben in Mosambik ihre Spuren hinterlassen und zur Folge, dass der Wandel hin zur Selbstständigkeit nach wie vor schleppend verläuft.

Der neue Geist der weltweit ausgerufenen Pandemie hat Masken in die Gesichter der Menschen getragen und so seine Spuren hinterlassen, allerdings scheint er erfolgreicher im urbanen Umfeld zu sein. Hier wird tagsüber immer noch viel Maske getragen, während diese dann abends beim sozialen Zusammensein von der Nase gefallen scheinen. Dass sich auf die Frage, warum das so ist, mehrere Antworten finden, sollte nicht überraschen.

Hier in Mosambik tragen viele Angestellten des öffentlichen Dienstes immer noch allzeit und überall Maske, vom Verkehrspolizisten bis zum Straßenfeger, obschon seit Anfang September die Maskenpflicht weitgehend gelockert wurde. Bei der vorher strikten Maskenpflicht ging es auch anders: In einem mosambikanischen Grenzposten hatte keiner der „Migração“ (Immigrationsbehörde) eine Maske auf, obschon diese per Dekret des Präsidenten hätte getragen werden müssen.

Nach den Formalitäten des Grenzübertritts, etwa zehn Minuten später, in einem kleinen Laden an der Straße, rief dann einer sehr forsch „Masquera“ — mit einer Handbewegung Richtung Nase. Man habe gerade keine dabei und die Angelegenheit war erledigt. Je nach Eigensinn wird das neue Accessoire getragen und dass etwas mal nicht vorhanden ist, erstaunt auch niemanden. Vielen ist klar, dass Masken wenig Schutz bieten und doch werden meist die Regeln der Obrigkeit befolgt — oder eben nicht. Im Straßenbild sieht man auch mehr Frauen, die sich die Maske aufsetzen. Eine Vermutung: Sie erlauben einer Frau, ihr Gesicht zu verbergen, was gegen zahlreiche Anzüglichkeiten schützen mag.

Ein afrikanisches „Yes, we can“ lässt auf sich warten

Der mosambikanische Schriftsteller Mia Couto brachte 2009 einen Essayband heraus und betitelte ihn „E Se Obama Fosse Africano“ (Und wenn Obama Afrikaner wäre). Dass er sich wohl auf das Motto „Yes we can“ bezog, wird beim Lesen dieser Essays klar. In seinen Überlegungen geht Couto einen Schritt zurück und fordert seine Landsleute auf, sich selbst um die Zukunft seines Landes zu kümmern.

„Worte wohnen so sehr in uns, dass wir vergessen, dass sie eine Geschichte haben. Es lohnt sich, das Wort ‚Person‘ zu hinterfragen, genau das werde ich tun, und zwar in einer einfachen und prägnanten Art. Das Wort ‚Person‘ stammt aus dem Lateinischen: ‚persona‘. Dieser Begriff bezieht sich auf Masken, hat also mit Theater zu tun. Persona war der Raum zwischen der Maske und dem Gesicht, der Raum, in dem die Stimme an Klang und Echo gewinnt. In seinem Ursprung bezieht sich das Wort ‚Person‘ auf eine Lücke, die durch eine Täuschung gefüllt wurde, die des Schauspielers (...). Wir werden sehen, dass wir nicht weit von diesem Ursprung entfernt sind, wo wir uns verstecken hinter einer Maske bei der Inszenierung der Erzählung, die wir ‚unser Leben‘ nennen“ — Mia Couto, Der Planet der kaputten Socken.

„Estamos juntos!“ (Wir sind zusammen) hört man in Mosambik oft. Bei einem geschäftlichen oder informellen Zusammentreffen möchte man sich versichern, dass der andere nichts Schlechtes über einen denkt. Zauberei ist hier etwas, das man möglichst vermeiden will. Vom floskelhaften „Estamos juntos!“ zu einem wirklichen Gemeinsinn ist aber noch ein weiter Weg. Es sei unbestritten, dass es hier Gemeinsinn gibt, aber in Wahrheit gibt es höchst unterschiedliche Arten, wie dieser Common Sense zustande kommt.

In ländlichen Gegenden sieht man öfters Männer unter einem Baum sitzen und palavern. Ein europäischer Beobachter könnte meinen, da wird vor allem gescherzt und gelacht. Der oberflächliche Eindruck mag täuschen: Das sind alles andere als Spielereien, es ist die Art, wie in Mosambik das dörfliche Leben geregelt wird. Treffen sich Frauen nach der Feldarbeit und singen und tanzen zusammen, dann ist dies keine Freizeitbeschäftigung, sondern Nachbarschaftspflege und Herstellung von Lebenssinn — sinnlich und direkt und der Arbeit gleichgestellt.

Wo Erfolg Lebenssinn darstellt, muss bedacht werden, dass anderswo der Sinn des Lebens sich ganz anders manifestiert. Erfolg mag also unterschiedliche Rahmenerzählungen vorfinden und hängt nicht nur davon ab, was das Individuum sich erschaffen hat, sondern ist von Kultur bedingt. Die Flagge von Mosambik zeigt eine Kalaschnikow AK-47, die auf den Freiheitskampf der FRELIMO gegen die portugiesischen Kolonialherren anspielt.

Diese Rahmenerzählung ist die offizielle, aber es gibt heute Stimmen, welche diese Flagge geändert haben wollen, denn eine Waffe in der Flagge bedeute nichts Gutes. Selbst Strassenverkäufer bieten heutzutage handgemachte Batiken feil, die eine „entwaffnete“ Flagge zeigen. Dies ist sehr klug gemacht, denn in einer künstlerischen Eigenkreation wird die Zensur umgangen, welche es hier seit jeher gibt.

Als vor Kurzem in Maputo gegen die steigenden Benzinpreise protestiert wurde, war dies ein Streik der Verweigerung. Man blieb einfach zu Hause und gab kein Geld aus. Durch alle Schichten hinweg gratulierte man sich zu dieser Form des Protestes. Für die Staatsmacht ein zu leichtes Ziel abzugeben, dies wollte keiner. So konnte sogar die Nomenklatura ihr Gesicht wahren sowie jeder einzelne Mosambikaner, der sich dem Protest anschließen wollte.

Die russische Redensart, dass der Kühlschrank stets gegen den Fernseher gewinne, könnte auch auf Mosambik zutreffen. Erlebten doch viele die von den globalen Eliten ausgerufene Gesundheitskrise anders als wie von der eigenen Elite angedroht.

Auch in Mosambik wird weitgehend nicht an Covid gestorben, sondern an Malaria, Tuberkulose oder anderen in Afrika seit jeher vorherrschenden Krankheiten. Im Windschatten des Covid-Mediensturms wurden auch in Mosambik derart unsinnige Massnahmen ergriffen, dass sich für viele das Thema erledigt hat. In Maputo wurden beispielsweise viele stadtnahe Strände gesperrt, währenddessen Jogger den Strand wie gewohnt benutzen durften. Wenig erstaunlich sind viele auf stadtferne Strände ausgewichen, wo die Symbolpolitik keine Polizeibeamten hinschickte.

Europa ist kein Vorbild mehr

Man sagt sich hier: „Tem que ter uma solução“ (Es muss eine Lösung geben). Und mit jeder gefundenen Lösung wird eine Missstimmung aus der Welt geschafft. Erfolg wird in kleinen Schritten angegangen, die sich in der Praxis bewähren müssen. So gesehen, beginnen viele Afrikaner zu begreifen, dass sie sich mit den Covidmassnahmen keinen Gefallen antaten. Mit dem Ukrainekrieg wird diese Einsicht noch beschleunigt.

Man wird als Europäer schon bereits scherzhaft gefragt, ob daheim (in Europa) alles zum Besten sei. Ob man noch Gas und Elektrizität habe. Die bittere Ironie dabei ist, dass es absehbar in Europa zu durchaus vergleichbaren Problemen wie in Mosambik kommen könnte und daran hat vor allem ebenfalls die Regierung schuld.

Der Nigerianer Chika A. Oneyeani schrieb einst seinen Landsleuten ins Heft:

„Ich habe genug von Menschen, die nur an eines denken: Jammern und Klagen als Ritual, in dem wir uns mental als Opfer inszenieren. Wir weinen und jammern, jammern und weinen. Wir beklagen uns bis zum Brechreiz über das, was andere uns angetan haben und weiterhin antun. Und wir denken, dass die Welt uns etwas schuldet.

Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, dass dies nichts als eine Illusion ist. Niemand ist uns etwas schuldig. Niemand ist bereit, auf das, was er hat, zu verzichten, nur weil wir dasselbe wollen. Wenn wir etwas wollen, müssen wir wissen, wie wir es bekommen können. Wir können nicht weiter betteln, meine Brüder und Schwestern. 40 Jahre nach der Unabhängigkeit machen wir immer noch die Kolonialherren für alles verantwortlich, was heute in Afrika geschieht. Unsere Politiker sind nicht immer ehrlich genug, um ihre Verantwortung für die Armut unserer Völker zu übernehmen.“

Europa darf neu in den Kreis der Adressaten dieses Aufrufes eintreten, jedoch sind daran nicht die Afrikaner schuld, die in den vergangenen Jahren nach Europa kamen. Wir Europäer haben in den letzten rund 30 Jahren unsere Kultur erodieren lassen, oft in unbedarfter Weise, während Afrika noch die ihrige hat. Zwar wird auch hier gejammert, die afrikanische Kultur sei gefährdet, doch die Vorstellung, dass diese sich nicht verändern dürfe, zeigt vielmehr, dass man sich einer eigenen Kultur bewusst ist.

Warum ist die Rede von Kultur, wenn sich der Ökonom Oneyeani um Ziele und Erfolgsquoten sorgt? Es ist eine kulturelle Leistung, wie Erfolg bemessen wird, sie sorgt für die Rahmenerzählung. So ist Kultur als Fähigkeit zu verstehen, Mittel zur Verfügung zu haben, mit denen man dasjenige verhandeln kann, welches einem im Leben widerfährt, sodass sich kohärenter Lebenssinn herstellen lässt.

Hat Europa heute noch genug Kultur, im Miteinander Lebenssinn herzustellen?

In vielen Sprachen Afrikas ist der Ausdruck arm der gleiche wie Waise — also derjenige ist arm, der keine Familie hat. Es ist wiederum eine Frage der Sichtweise, ob sich die Afrikaner als arm sehen. In einem Strandort, etwa 30 Kilometer von Maputo entfernt, wohnt es sich immer noch in einfachsten Verhältnissen und ohne fließend Wasser.

Die Häuser könnte man neudeutsch als Tiny Houses bezeichnen — einfach ohne den westlichen Lebenschic. Die unversiegelten Flächen rund um die Häuser sind freilich keine ökologische Maßnahme, sondern staubige Realität. Immer noch ist Land genug vorhanden, um Essen anzubauen, und das vor der eigenen Haustür liegende Meer ist gleichermassen Nahrungsquelle. Der Stolz einer Frau war spürbar, als sie sagte, dass sie keinen Hunger leiden müsse. Sie war sich ihrer Situation offensichtlich bewusst, aber sie schien zufrieden.

Mosambiks Weg ist nicht einfach

Zurück in der Hauptstadt wird einem von der strukturellen Benachteiligung Afrikas erzählt und das entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Die Infrastruktur der Großstadt bietet einem so vieles, was eine Stunde Fahrt entfernt sichtlich fehlt. Welchen Standpunkt gilt es nun einzunehmen? In vielen Ländern Afrikas kann man den Tag in verschiedenen Realitäten verbringen. Man kann sich diesen Realitäten verweigern, was auch nicht wenige in Mosambik tun. Dies wird in den Worten deutlich, die gebraucht werden. Es wird viel von der besseren Zukunft geredet — in privaten Gesprächen, in der Werbung sowie im politischen Raum.

Covid ist nicht die erste Einflussnahme von aussen und wird auch nicht die letzte sein. Doch hinter den Kulissen beginnt sich einiges zu ändern. Mosambik hat mancherorts das Spielbrett gedreht und bestimmt nun selber, welche Projekte von internationaler Seite gefördert werden dürfen. Und nicht nur das, es bestimmt auch, wie dies gemacht wird. Im Zentrum Maputos lässt sich dieser Erfolg an den Fahrzeugen bemessen. Die sind im Standard durchaus mit europäischen Städten vergleichbar, aber mit zunehmender Distanz vom Stadtzentrum ändert sich dies rapide. Da raucht und faucht es, während man versucht, sich auf den Staubstrassen zu kreuzen.

„Im Kampf um unsere Unabhängigkeit brauchte es Hoffnung, um Mut zu haben. Jetzt braucht es Mut zur Hoffnung. Früher träumten wir von einer Heimat, weil wir von dieser Heimat erträumt wurden. Jetzt wollen wir diese große Mutter bitten, uns die Hoffnung zurückzugeben. Es kommt aber keine Antwort, die Mutter schweigt, ist abwesend. Das Einzige, was sie uns sagt, ist, dass sie eine Stimme hatte, als wir diese Stimme waren. Solange wir schweigen, wird sie schweigen.

Das bedeutet, dass wir wieder und wieder und wieder anfangen müssen. Wir müssen ein anderes Narrativ erfinden, einen anderen Glauben leben. Die Wahrheit ist: Wir sind diejenigen, die eine Mutter zur Welt bringen müssen. Wir sind nur Verwandte, Mutterland und Bürger, in einer Beziehung, die sich Korn für Korn, Tropfen für Tropfen entwickelt“ — Mia Couto, Der Zukunft Zeit geben.

Zukunft sowie Erfolg werden mit der Vergangenheit verglichen und daran bemessen. Diese gilt es zu kennen. Man möchte keineswegs die Kolonialzeit verherrlichen, aber in der portugiesischen Kolonialzeit und nach dem Befreiungskrieg (1974 beendet) gab es in Mosambik so gut wie keine Korruption.

Die begann erst nach der Beendigung des Bürgerkriegs (1976 bis 1992) unter dem Einfluss des Internationalen Währungsfonds IWF und seinem Herrn USA, welche befahlen, die einheimischen Löhne abzusenken, und somit der Praxis der offensichtlichen Korruption den Vorzug gaben, die man zwar in der Öffentlichkeit anprangerte, aber in Wirklichkeit absichtsvoll förderte. Die USA haben übrigens auf der ganzen Welt stets nur diejenigen Eliten gefördert und bevorzugt, welche gleichzeitig bestechlich und folgsam waren. Es ist diese eiskalte Machtpolitik, welche heute noch die Bevölkerung Mosambiks arm hält.

In vielen Ländern Afrikas sind die Machtstrukturen noch immer derart, dass Bürgerpartizipation erst langsam politisch Wirkung zeigt. Einzelne Initiativen schaffen es jedoch, durch eine „Fait accompli“-Politik beispielhaft über Regionen hinaus zu wirken. So ist es als Erfolg zu verbuchen, dass die Bevölkerung von Mosambik den Zwischenraum zwischen eigener Stimme und der Maske — der römischen „Persona“ — anfängt zu gestalten. Doch erneut ist die Frage zu stellen, womit Erfolg bemessen wird. Denn die Prozesse der Katharsis können sich auch als weitere Kriege zeigen. Im Lichte dieser Möglichkeit ist dann die Frage, welchen Erfolg mit welchen Mitteln erreicht wird, keine individuelle Frage mehr.

von Andreas Hagenbach

Fraglicher Erfolg in Ostafrika

27.09.2022 – Rubikon

Fraglicher Erfolg in Ostafrika

Kolonialisierung und Coronapolitik haben in Mosambik ihre Spuren hinterlassen und zur Folge, dass der Wandel hin zur Selbstständigkeit nach wie vor schleppend verläuft.

Der neue Geist der weltweit ausgerufenen Pandemie hat Masken in die Gesichter der Menschen getragen und so seine Spuren hinterlassen, allerdings scheint er erfolgreicher im urbanen Umfeld zu sein. Hier wird tagsüber immer noch viel Maske getragen, während diese dann abends beim sozialen Zusammensein von der Nase gefallen scheinen. Dass sich auf die Frage, warum das so ist, mehrere Antworten finden, sollte nicht überraschen.

Hier in Mosambik tragen viele Angestellten des öffentlichen Dienstes immer noch allzeit und überall Maske, vom Verkehrspolizisten bis zum Straßenfeger, obschon seit Anfang September die Maskenpflicht weitgehend gelockert wurde. Bei der vorher strikten Maskenpflicht ging es auch anders: In einem mosambikanischen Grenzposten hatte keiner der „Migração“ (Immigrationsbehörde) eine Maske auf, obschon diese per Dekret des Präsidenten hätte getragen werden müssen.

Nach den Formalitäten des Grenzübertritts, etwa zehn Minuten später, in einem kleinen Laden an der Straße, rief dann einer sehr forsch „Masquera“ — mit einer Handbewegung Richtung Nase. Man habe gerade keine dabei und die Angelegenheit war erledigt. Je nach Eigensinn wird das neue Accessoire getragen und dass etwas mal nicht vorhanden ist, erstaunt auch niemanden. Vielen ist klar, dass Masken wenig Schutz bieten und doch werden meist die Regeln der Obrigkeit befolgt — oder eben nicht. Im Straßenbild sieht man auch mehr Frauen, die sich die Maske aufsetzen. Eine Vermutung: Sie erlauben einer Frau, ihr Gesicht zu verbergen, was gegen zahlreiche Anzüglichkeiten schützen mag.

Ein afrikanisches „Yes, we can“ lässt auf sich warten

Der mosambikanische Schriftsteller Mia Couto brachte 2009 einen Essayband heraus und betitelte ihn „E Se Obama Fosse Africano“ (Und wenn Obama Afrikaner wäre). Dass er sich wohl auf das Motto „Yes we can“ bezog, wird beim Lesen dieser Essays klar. In seinen Überlegungen geht Couto einen Schritt zurück und fordert seine Landsleute auf, sich selbst um die Zukunft seines Landes zu kümmern.

„Worte wohnen so sehr in uns, dass wir vergessen, dass sie eine Geschichte haben. Es lohnt sich, das Wort ‚Person‘ zu hinterfragen, genau das werde ich tun, und zwar in einer einfachen und prägnanten Art. Das Wort ‚Person‘ stammt aus dem Lateinischen: ‚persona‘. Dieser Begriff bezieht sich auf Masken, hat also mit Theater zu tun. Persona war der Raum zwischen der Maske und dem Gesicht, der Raum, in dem die Stimme an Klang und Echo gewinnt. In seinem Ursprung bezieht sich das Wort ‚Person‘ auf eine Lücke, die durch eine Täuschung gefüllt wurde, die des Schauspielers (...). Wir werden sehen, dass wir nicht weit von diesem Ursprung entfernt sind, wo wir uns verstecken hinter einer Maske bei der Inszenierung der Erzählung, die wir ‚unser Leben‘ nennen“ — Mia Couto, Der Planet der kaputten Socken.

„Estamos juntos!“ (Wir sind zusammen) hört man in Mosambik oft. Bei einem geschäftlichen oder informellen Zusammentreffen möchte man sich versichern, dass der andere nichts Schlechtes über einen denkt. Zauberei ist hier etwas, das man möglichst vermeiden will. Vom floskelhaften „Estamos juntos!“ zu einem wirklichen Gemeinsinn ist aber noch ein weiter Weg. Es sei unbestritten, dass es hier Gemeinsinn gibt, aber in Wahrheit gibt es höchst unterschiedliche Arten, wie dieser Common Sense zustande kommt.

In ländlichen Gegenden sieht man öfters Männer unter einem Baum sitzen und palavern. Ein europäischer Beobachter könnte meinen, da wird vor allem gescherzt und gelacht. Der oberflächliche Eindruck mag täuschen: Das sind alles andere als Spielereien, es ist die Art, wie in Mosambik das dörfliche Leben geregelt wird. Treffen sich Frauen nach der Feldarbeit und singen und tanzen zusammen, dann ist dies keine Freizeitbeschäftigung, sondern Nachbarschaftspflege und Herstellung von Lebenssinn — sinnlich und direkt und der Arbeit gleichgestellt.

Wo Erfolg Lebenssinn darstellt, muss bedacht werden, dass anderswo der Sinn des Lebens sich ganz anders manifestiert. Erfolg mag also unterschiedliche Rahmenerzählungen vorfinden und hängt nicht nur davon ab, was das Individuum sich erschaffen hat, sondern ist von Kultur bedingt. Die Flagge von Mosambik zeigt eine Kalaschnikow AK-47, die auf den Freiheitskampf der FRELIMO gegen die portugiesischen Kolonialherren anspielt.

Diese Rahmenerzählung ist die offizielle, aber es gibt heute Stimmen, welche diese Flagge geändert haben wollen, denn eine Waffe in der Flagge bedeute nichts Gutes. Selbst Strassenverkäufer bieten heutzutage handgemachte Batiken feil, die eine „entwaffnete“ Flagge zeigen. Dies ist sehr klug gemacht, denn in einer künstlerischen Eigenkreation wird die Zensur umgangen, welche es hier seit jeher gibt.

Als vor Kurzem in Maputo gegen die steigenden Benzinpreise protestiert wurde, war dies ein Streik der Verweigerung. Man blieb einfach zu Hause und gab kein Geld aus. Durch alle Schichten hinweg gratulierte man sich zu dieser Form des Protestes. Für die Staatsmacht ein zu leichtes Ziel abzugeben, dies wollte keiner. So konnte sogar die Nomenklatura ihr Gesicht wahren sowie jeder einzelne Mosambikaner, der sich dem Protest anschließen wollte.

Die russische Redensart, dass der Kühlschrank stets gegen den Fernseher gewinne, könnte auch auf Mosambik zutreffen. Erlebten doch viele die von den globalen Eliten ausgerufene Gesundheitskrise anders als wie von der eigenen Elite angedroht.

Auch in Mosambik wird weitgehend nicht an Covid gestorben, sondern an Malaria, Tuberkulose oder anderen in Afrika seit jeher vorherrschenden Krankheiten. Im Windschatten des Covid-Mediensturms wurden auch in Mosambik derart unsinnige Massnahmen ergriffen, dass sich für viele das Thema erledigt hat. In Maputo wurden beispielsweise viele stadtnahe Strände gesperrt, währenddessen Jogger den Strand wie gewohnt benutzen durften. Wenig erstaunlich sind viele auf stadtferne Strände ausgewichen, wo die Symbolpolitik keine Polizeibeamten hinschickte.

Europa ist kein Vorbild mehr

Man sagt sich hier: „Tem que ter uma solução“ (Es muss eine Lösung geben). Und mit jeder gefundenen Lösung wird eine Missstimmung aus der Welt geschafft. Erfolg wird in kleinen Schritten angegangen, die sich in der Praxis bewähren müssen. So gesehen, beginnen viele Afrikaner zu begreifen, dass sie sich mit den Covidmassnahmen keinen Gefallen antaten. Mit dem Ukrainekrieg wird diese Einsicht noch beschleunigt.

Man wird als Europäer schon bereits scherzhaft gefragt, ob daheim (in Europa) alles zum Besten sei. Ob man noch Gas und Elektrizität habe. Die bittere Ironie dabei ist, dass es absehbar in Europa zu durchaus vergleichbaren Problemen wie in Mosambik kommen könnte und daran hat vor allem ebenfalls die Regierung schuld.

Der Nigerianer Chika A. Oneyeani schrieb einst seinen Landsleuten ins Heft:

„Ich habe genug von Menschen, die nur an eines denken: Jammern und Klagen als Ritual, in dem wir uns mental als Opfer inszenieren. Wir weinen und jammern, jammern und weinen. Wir beklagen uns bis zum Brechreiz über das, was andere uns angetan haben und weiterhin antun. Und wir denken, dass die Welt uns etwas schuldet.

Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, dass dies nichts als eine Illusion ist. Niemand ist uns etwas schuldig. Niemand ist bereit, auf das, was er hat, zu verzichten, nur weil wir dasselbe wollen. Wenn wir etwas wollen, müssen wir wissen, wie wir es bekommen können. Wir können nicht weiter betteln, meine Brüder und Schwestern. 40 Jahre nach der Unabhängigkeit machen wir immer noch die Kolonialherren für alles verantwortlich, was heute in Afrika geschieht. Unsere Politiker sind nicht immer ehrlich genug, um ihre Verantwortung für die Armut unserer Völker zu übernehmen.“

Europa darf neu in den Kreis der Adressaten dieses Aufrufes eintreten, jedoch sind daran nicht die Afrikaner schuld, die in den vergangenen Jahren nach Europa kamen. Wir Europäer haben in den letzten rund 30 Jahren unsere Kultur erodieren lassen, oft in unbedarfter Weise, während Afrika noch die ihrige hat. Zwar wird auch hier gejammert, die afrikanische Kultur sei gefährdet, doch die Vorstellung, dass diese sich nicht verändern dürfe, zeigt vielmehr, dass man sich einer eigenen Kultur bewusst ist.

Warum ist die Rede von Kultur, wenn sich der Ökonom Oneyeani um Ziele und Erfolgsquoten sorgt? Es ist eine kulturelle Leistung, wie Erfolg bemessen wird, sie sorgt für die Rahmenerzählung. So ist Kultur als Fähigkeit zu verstehen, Mittel zur Verfügung zu haben, mit denen man dasjenige verhandeln kann, welches einem im Leben widerfährt, sodass sich kohärenter Lebenssinn herstellen lässt.

Hat Europa heute noch genug Kultur, im Miteinander Lebenssinn herzustellen?

In vielen Sprachen Afrikas ist der Ausdruck arm der gleiche wie Waise — also derjenige ist arm, der keine Familie hat. Es ist wiederum eine Frage der Sichtweise, ob sich die Afrikaner als arm sehen. In einem Strandort, etwa 30 Kilometer von Maputo entfernt, wohnt es sich immer noch in einfachsten Verhältnissen und ohne fließend Wasser.

Die Häuser könnte man neudeutsch als Tiny Houses bezeichnen — einfach ohne den westlichen Lebenschic. Die unversiegelten Flächen rund um die Häuser sind freilich keine ökologische Maßnahme, sondern staubige Realität. Immer noch ist Land genug vorhanden, um Essen anzubauen, und das vor der eigenen Haustür liegende Meer ist gleichermassen Nahrungsquelle. Der Stolz einer Frau war spürbar, als sie sagte, dass sie keinen Hunger leiden müsse. Sie war sich ihrer Situation offensichtlich bewusst, aber sie schien zufrieden.

Mosambiks Weg ist nicht einfach

Zurück in der Hauptstadt wird einem von der strukturellen Benachteiligung Afrikas erzählt und das entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Die Infrastruktur der Großstadt bietet einem so vieles, was eine Stunde Fahrt entfernt sichtlich fehlt. Welchen Standpunkt gilt es nun einzunehmen? In vielen Ländern Afrikas kann man den Tag in verschiedenen Realitäten verbringen. Man kann sich diesen Realitäten verweigern, was auch nicht wenige in Mosambik tun. Dies wird in den Worten deutlich, die gebraucht werden. Es wird viel von der besseren Zukunft geredet — in privaten Gesprächen, in der Werbung sowie im politischen Raum.

Covid ist nicht die erste Einflussnahme von aussen und wird auch nicht die letzte sein. Doch hinter den Kulissen beginnt sich einiges zu ändern. Mosambik hat mancherorts das Spielbrett gedreht und bestimmt nun selber, welche Projekte von internationaler Seite gefördert werden dürfen. Und nicht nur das, es bestimmt auch, wie dies gemacht wird. Im Zentrum Maputos lässt sich dieser Erfolg an den Fahrzeugen bemessen. Die sind im Standard durchaus mit europäischen Städten vergleichbar, aber mit zunehmender Distanz vom Stadtzentrum ändert sich dies rapide. Da raucht und faucht es, während man versucht, sich auf den Staubstrassen zu kreuzen.

„Im Kampf um unsere Unabhängigkeit brauchte es Hoffnung, um Mut zu haben. Jetzt braucht es Mut zur Hoffnung. Früher träumten wir von einer Heimat, weil wir von dieser Heimat erträumt wurden. Jetzt wollen wir diese große Mutter bitten, uns die Hoffnung zurückzugeben. Es kommt aber keine Antwort, die Mutter schweigt, ist abwesend. Das Einzige, was sie uns sagt, ist, dass sie eine Stimme hatte, als wir diese Stimme waren. Solange wir schweigen, wird sie schweigen.

Das bedeutet, dass wir wieder und wieder und wieder anfangen müssen. Wir müssen ein anderes Narrativ erfinden, einen anderen Glauben leben. Die Wahrheit ist: Wir sind diejenigen, die eine Mutter zur Welt bringen müssen. Wir sind nur Verwandte, Mutterland und Bürger, in einer Beziehung, die sich Korn für Korn, Tropfen für Tropfen entwickelt“ — Mia Couto, Der Zukunft Zeit geben.

Zukunft sowie Erfolg werden mit der Vergangenheit verglichen und daran bemessen. Diese gilt es zu kennen. Man möchte keineswegs die Kolonialzeit verherrlichen, aber in der portugiesischen Kolonialzeit und nach dem Befreiungskrieg (1974 beendet) gab es in Mosambik so gut wie keine Korruption.

Die begann erst nach der Beendigung des Bürgerkriegs (1976 bis 1992) unter dem Einfluss des Internationalen Währungsfonds IWF und seinem Herrn USA, welche befahlen, die einheimischen Löhne abzusenken, und somit der Praxis der offensichtlichen Korruption den Vorzug gaben, die man zwar in der Öffentlichkeit anprangerte, aber in Wirklichkeit absichtsvoll förderte. Die USA haben übrigens auf der ganzen Welt stets nur diejenigen Eliten gefördert und bevorzugt, welche gleichzeitig bestechlich und folgsam waren. Es ist diese eiskalte Machtpolitik, welche heute noch die Bevölkerung Mosambiks arm hält.

In vielen Ländern Afrikas sind die Machtstrukturen noch immer derart, dass Bürgerpartizipation erst langsam politisch Wirkung zeigt. Einzelne Initiativen schaffen es jedoch, durch eine „Fait accompli“-Politik beispielhaft über Regionen hinaus zu wirken. So ist es als Erfolg zu verbuchen, dass die Bevölkerung von Mosambik den Zwischenraum zwischen eigener Stimme und der Maske — der römischen „Persona“ — anfängt zu gestalten. Doch erneut ist die Frage zu stellen, womit Erfolg bemessen wird. Denn die Prozesse der Katharsis können sich auch als weitere Kriege zeigen. Im Lichte dieser Möglichkeit ist dann die Frage, welchen Erfolg mit welchen Mitteln erreicht wird, keine individuelle Frage mehr.

von Andreas Hagenbach


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