Das Problem mit den Telegram-Gruppen

Das Problem mit den Telegram-Gruppen

15.02.2022 – Gunnar Kaiser

Über einen langen Zeitraum habe ich mit dem Kopf geschüttelt, wenn ich gelesen habe, die Telegram-Gruppen seien lediglich Treffpunkte für Hetzer, Schwurbler und Verschwörungstheoretiker. Als Generalisierung lehne ich dieses Statement nach wie vor ab, denn es ist schlicht und ergreifend falsch. Doch nach etlichen Monaten, die ich selbst in solchen Chats verbracht habe, kann ich diese Haltung nachvollziehen. Das heißt nicht, dass ich sie durchweg teile, aber auch mir sind eine ganze Reihe von Problemen aufgefallen, die mich immer öfter dazu bewegt haben, solche Chatgruppen zu verlassen. Im Folgenden will ich einige dieser Probleme ansprechen.

Von Tarek Schwarz

Problem Nr. 1 – Die Informationsmasse und -qualität

Es dauerte keine zwei Wochen, bis jede Chatgruppen, in der ich Mitglied gewesen bin, mit Informationen geflutet wurde, die ein einzelner Mensch unmöglich nachverfolgen und prüfen kann. Bei mir verhielt es sich in regelmäßigen Abständen so: Nach wenigen (und sehr erholsamen) Stunden des Smartphoneverzichts, öffnete ich den Nachrichtendienst meiner Wahl und sah mich mit 495 ungelesenen Nachrichten konfrontiert – alle „unglaublich wichtig“.

Jedes Mitglied hat 24/7 die Möglichkeit, jede erdenkliche Information ungehindert in den Gruppenchat zu stellen. Das kann im Falle sich überschlagender Ereignisse und wichtiger Entschlüsse sehr hilfreich sein, da auf diese Weise viele Menschen unmittelbaren Zugang zu wichtigen Informationen erhalten, ohne lange danach suchen zu müssen. Wenn Verordnungen und Beschlüsse sich im Eilzugtempo ändern und keiner mehr weiß, welcher Firlefanz gerade aktuell ist, kann es helfen, Gruppenmitglieder zu haben, die bereits informiert sind und den Rest der Gruppe kurz und knapp unterrichten.

Das Problem beginnt dann, wenn ausnahmslos jede Information in einen solchen Chat geworfen und von dort aus verbreitet wird. Werden sämtliche Screenshots, Grafiken und Links als Informationen von höchster Wichtigkeit präsentiert – und fehlt demjenigen, der die Information teilt, das Rüstzeug, um den Inhalt dieser Nachricht adäquat zu beurteilen, dann wächst das, was einst ein gut überschaubarer Platz für praxisbezogene Informationen gewesen ist, zu einem Pulk aus tausendundeinem Link, die ohne Differenzierung in sämtliche virtuellen Himmelsrichtungen verteilt werden. Daher fällt es den Gegnern solcher Chats auch sehr leicht, automatisch von „Fake News“ zu sprechen. Es passiert tatsächlich sehr schnell, dass eine Information falsch verstanden und mit diesem Fehlverständnis verbreitet wird.

Dahinter steckt allerdings in den seltensten Fällen eine böse Absicht, sondern eine zutiefst menschliche Fehleranfälligkeit, der man nur mit Sorgfalt begegnen kann. Wenn aber wichtige, praktisch relevante Informationen von einer Lawine der Belanglosigkeit verschüttet werden, wird es für den Einzelnen schwer, die gehaltvollen und relevanten Informationen von den weniger gehaltvollen zu unterscheiden.

Ein gut ausgebildeter Journalist lernt schnell, eine wichtige von einer unwichtigen Information zu trennen. Im besten Fall steht für ihn die Informationsqualität vor der Aktualität. Das heißt, er nimmt sich für seine Recherchen genügend Zeit und wählt sorgfältig aus, welche Information er einbezieht, achtet dabei auf Ausgewogenheit und distanziert sich vom Thema, wodurch er Neutralität wahren kann. Dass dieses recht idealistische Verständnis von Journalismus mittlerweile antiquiert anmutet, hängt auch mit Digitalisierung, Skandalisierung und Effekthascherei zusammen.

Telegramchats bestehen aus einer losen, teilanonymen Gruppe, deren primäres Interesse häufig nicht die Information selbst ist. Eher sind die Mitglieder – so scheint es – auf den sekundären Nutzen der Information ausgerichtet: Sie benutzen sie als Zange, um ihr emotionales Ventil zu lockern.

2. Problem: Der Chat als Abladestation für gestaute Gefühle

Ich gehe konform mit der Ansicht, dass Corona nicht das Urproblem ist, sondern ein Stellvertreter. Ein Abladeplatz für frühere narzisstische Traumata und gestaute Emotionen. Wer sich für die psychologischen Hintergründe interessiert, dem sei das KaiserTV-Gespräch mit dem Psychiater und Psychotherapeuten Hans-Joachim Maaz empfohlen, ebenso wie Maaz‘ Buch „Corona Angst“.

Dieses Phänomen betrifft alle Seiten. Der Maßnahmenbefürworter sieht bspw. in der Sündenbockerzählung unterbewusst eine Chance, seine frühere Wut zu veräußern. Dadurch empfindet er sie als berechtigt, kann sie von sich selbst fernhalten und kommt so um seinen früheren Leidensdruck herum. Der Maßnahmengegner tut dasselbe, wenn er sich über „die Idioten“ aufregt, die immer noch mitmachen oder an der Macht sind und deren Entscheidungen er nicht beeinflussen kann. Die Frage nach der Richtigkeit des Inhalts ist der Ventilwirkung dabei stets nachgestellt. Kurz: Was dem einen der „Covidiot“, ist dem anderen das „Schlafschaf“.

Das Abwehrprinzip dahinter ist identisch und findet sich deshalb auch in den Telegramchats wieder. Allzu oft kamen zu den Links persönliche Einschätzungen der Schreiber hinzu, aus denen ich herauslesen konnte, dass sie die „Ventilwirkung“ des Chats wesentlich dringender benötigten als die eigentliche Information. Manchmal fand sich eine ganze Gruppe von Empörten, die ihre Unzufriedenheit, ihren Frust und ihre Hilflosigkeit so lange kundtaten, bis der gesamte Chat damit beschäftigt war, entweder darüber zu streiten oder die Wogen zu glätten.

Ich verurteile dieses Verhalten nicht. In Extremsituationen passen sich viele Menschen durch extremes Verhalten an. Wenn rundherum alles bröckelt, das bislang der narzisstischen Abwehr diente, sind viele Menschen auf ein solches Ventil angewiesen. Mir ist es allemal lieber, ein Betroffener lebt seine Aggression im Chat aus, als dass er auf einer Demonstration oder in den eigenen vier Wänden zum Gewalttäter wird.

Nichtsdestotrotz löste diese Entwicklung in mir das Bedürfnis nach Rückzug aus, denn so interessant die Streitigkeiten und Gefühlsausbrüche auch waren, so waren sie mir doch ein Dorn im Auge, da sie die Gruppe nachhaltig geschädigt haben.

3. Problem: Konflikte – zwischen Reform und Revolution

Es ist recht einfach und sehr menschlich: Wo viele Leute zusammenkommen, gibt es widerstreitende Ansichten und Interessen. Daraus entstehen naturgemäß und unvermeidlich Konflikte – auch in Telegramchats. Alle Gruppenmitglieder stehen in einer wechselseitigen Beziehung zueinander, und trotzdem fehlen wichtige Kommunikationskanäle. Mimik, Gestik, Proxemik, Haptik und Spontanität fallen weg. Die Möglichkeiten, eine Nachricht falsch zu interpretieren, vervielfachen sich – und damit auch das Konfliktpotenzial.

Allhoff und Allhoff (2010) nennen drei Konfliktformen, in denen sich Einzelne oder Gruppe verfangen können – ganz gleich, ob real oder virtuell:

1. Innerseelische Konflikte
2. Konflikte zwischen Menschen
3. Systemkonflikte (Konflikte zwischen Menschen und organisatorischen Einheiten)

Überdies teilen sie zwischenmenschliche Konflikte noch einmal in Sach- und Beziehungskonflikte ein.

a) Sachkonflikte sind Weg- und Zielkonflikte. Der Wegkonflikt fragt danach, wie ein bestimmtes Ziel erreicht werden soll, der Sachkonflikt stellt die Frage, was man erreichen will.

b) Beziehungskonflikte haben ihren Ursprung in der Annahme, nicht akzeptiert und wertgeschätzt zu sein. (Allhoff & Allhoff 2010, 211)

Ich halte es für wahrscheinlich, dass alle drei Konfliktformen in den Telegramgruppen vorkommen und vielleicht nicht einmal klar voneinander getrennt werden können. Wie oben beschrieben, benötigen Menschen mit einem innerseelischen Konflikt die Möglichkeit, ihn mithilfe eines passenden Stellvertreters abzureagieren. Auch sind Selbstwert und Selbstreflexion von großer Bedeutung, wenn es um Konfliktlösung geht. Da es keinen Menschen ohne innerseelischen Konflikt gibt und kaum jemand von Natur aus mit einem starken Selbstwert trumpfen kann, spielen all diese Faktoren unweigerlich eine Rolle beim Durchleben und Lösen von Auseinandersetzungen. Aber auch Weg- und Zielkonflikte haben sich in den Chats besonders hervorgetan.

Weg- und Zielkonflikt

Im Laufe der Zeit kristallisierten sich zwei geistige Strömungen heraus, deren Weg- und Zielvorstellung so unterschiedlich war, dass sie einander oft feindlich begegneten: Die eine Strömung strebte „Reformen“ an und die andere bewarb ohne Umschweife einen „Umsturz“. Die eine betrachtete die aktuelle Krise als Chance, entweder zu alten oder zu neuen Werten zurückzukehren, bewusster zu leben und sich zu besinnen. Die andere bevorzugte den verbalen Kampf gegen „das System“, „die Politiker“ oder „die Konzerne“, derer „man“ sich entledigen müsse, um in Zukunft „wirklich frei“ zu sein. Reformdenken kollidierte also mit Revolutionsgelüsten und viel zu oft verlor sich die Gruppe in Anklagen, Schuldzuweisungen und aggressiver Abschirmung gegeneinander.

Von der gesamten Gruppe zu sprechen, ist jedoch falsch, denn es waren zumeist einzelne Mitglieder, die sich zu Sprachrohren der einen oder anderen Strömung ernannten und im Pluralis majestatis sprachen: „Wir“ müssen doch X und Y tun, um bei Z zu landen! Der Großteil der Gruppenmitglieder verharrte hingegen in der Rolle des stillen Beobachters.

Die Frage nach dem „Wie?“ führte beinahe täglich zu Grundsatzdiskussionen und zur Eröffnung von Nebenkriegsschauplätzen:

„Was? Du trägst auf einer Demo eine Maske? Was willst Du dann eigentlich dort, wenn Du Dich eh nur unterordnest? Geh doch gleich zu den Schafen auf die Wiese!“

Sehr häufig kam auch der Kommentar:

„Dass Du das so siehst, finde ich sehr schade. Ich dachte, wir ziehen hier alle an einem Strang.“

In Ermangelung eines besseren Ausdrucks nenne ich dieses Phänomen „Uniformitätsillusion“. In beiden Fällen ist die Vorstellung am Werk, es müsse so etwas wie einen idealtypischen Demonstranten geben. Erst, wer eine Reihe von Kriterien erfüllt (die niemand festgelegt hat), darf sich als „geweiht“ betrachten und guten Gewissens auf die Straße gehen. Oder anders: Erst, wer ausnahmslos allem zustimmt, das einem Mitglied als wichtig erscheint, zieht „am selben Strang“.

Sobald diese Illusion zerfällt, sobald also die eingebildete „Vollkommenheit“ der Gruppe verschwindet, kann auch der Idealismus eines „geschlossenen Widerstandes“ nur noch schwer gehalten werden. Folglich verfangen sich immer mehr Mitglieder in immer längeren Grundsatzdiskussionen darüber, wer unter welchen Voraussetzungen überhaupt ein geradliniger Protestler sei und welche Ideallösung es brauche, um „am Ende“ besser dazustehen. Nicht selten werden Umsturzfantasien formuliert, die einem gemäßigten und friedlichen Protest widersprechen:

„Solange Ihr ein System unterstützt, das von Politschweinen angeführt wird, die uns alle versklaven wollen, solange Ihr noch arbeiten geht und Euch damit herausredet, Ihr hättet zu viel zu verlieren, solange braucht Ihr auch nicht auf die Straße zu gehen. Das Problem muss an der Wurzel angepackt werden!“

Diese Haltung hat rein gar nichts mit konstruktivem Protest zu tun. Sie ist mehr Abwehr als alles andere und zeigt deutlich die Ohnmacht und das Wunschdenken, das entsteht, sobald die Uniformitätsillusion zerstört ist. Der Subtext dieser Nachricht könnte lauten: „Ich dachte, ich bin hier unter Leuten, die das genauso sehen, weil sie denselben Weitblick haben, wie ich – aber ich habe mich wohl geirrt und muss denen das jetzt nochmal erklären!“

Uniformität vs. Natürliche Unterschiede

Diese Ohnmacht und Abwehr, die ich im Chat sehr häufig erlebte, ist ein Hinweis auf ein essenzielles Missverständnis über die Natur starker Gruppen: Natürlich benötigen sie eine gewisse Organisation und ein übergeordnetes Ziel. Aber eine Gruppe, deren Uniformitätszwang so groß ist, dass Andersdenkende sich für ihre Ansichten rechtfertigen und womöglich erklären müssen, wird früher oder später zersplittern. Starke, resiliente Gruppen schaffen es, ein gemeinsames Ziel anzusteuern, ohne das Individuum allzu weit einzuschränken. Soll heißen, Protestgruppen sind dann effektiv, wenn sie die Unterschiede innerhalb der Gruppe als natürliche Gegebenheit akzeptieren und trotzdem gemeinsam für ein übergeordnetes Ziel auf die Straße gehen. Wenn die Mitglieder dieser Gruppe sich wirklich für Freiheit, Gleichbehandlung, Toleranz und Dialog einsetzen, führt kein Weg daran vorbei, diese Begriffe als Werte zu verstehen, die zuerst individuell und schließlich in der Gruppe kultiviert werden müssen. Diese differenzierte Grundhaltung hülfe im Übrigen auch dabei, mit der „Gegenseite“ nachsichtiger umzugehen, weil es sich bei „denen“ kein bisschen anders verhält. Auch Geimpfte und Maßnahmenbefürworter sind keine homogene, uniforme Masse, deren Mitglieder nichts anderes im Kopf haben, als aus demselben Halse den Teufel anzuklagen.

4. Problem: Datenschutz

Auch, wenn man in Zeiten von WhatsApp, Telegram, Facebook und Co. ausgiebig darüber streiten kann, ob es so etwas wie digitale Privatsphäre überhaupt gibt, erachte ich einen privaten Chatraum als das virtuelle Pendant zu einem vertraulichen Gespräch in natura. Ich gehe also davon aus, dass die Information, die ich mit einem Menschen teile, auch bei ihm bleibt. Sollte mein Gesprächspartner den Inhalt teilen wollen, darf er mich freundlich fragen, ob ich ihm das gestatte. Wenn er aber unerlaubt von unserem Gespräch ein Bildschirmfoto macht, auf dem mein vollständiger Name inklusive Telefonnummer zu sehen ist, und dieses Foto dann in eine Gruppe mit über hundert Mitgliedern stellt – dann werde ich mir zukünftig zweimal überlegen, ob ich diesem Kollegen schreibe. Leider habe ich in vielen Chatgruppen des Öfteren erlebt, wie das, was ich als „virtuelle Privatsphäre“ verstehe, vorsätzlich ignoriert wurde. Ohne zu zögern wurden Screenshots von Privatgesprächen in großen Gruppen geteilt, um nichts anderes zu tun als Person und Inhalt lächerlich zu machen. Das widerspricht gänzlich meinem Ethos und befeuert die Spaltung, anstatt sie zu verringern. Zugegeben, auch diese negative Erfahrung ging auf das Engagement vereinzelter Mitglieder zurück. Von der gesamten Gruppe darf man also auch hier nicht sprechen. Aber ich erachte es trotzdem als Problem und Widerspruch, wenn sich ein Mensch nach außen gegen Spaltung und die Überwachungspläne des Staates wehrt, Facebook ablehnt und digitale Impfpässe verneint, während er kein Problem damit hat, persönliche Informationen ungefragt mit einer großen Zahl unbekannter Gruppenmitglieder zu teilen – noch dazu, um jemanden anzuschwärzen.

Zusammenkunft

Der Fairness halber muss ich sagen, dass es auch Gruppen gibt, in denen aggressives und anderweitig zerstörerisches Verhalten sehr gut durch Dialog reguliert wird. In den wenigen Chats, denen ich nach wie vor angehöre, haben sich im Zuge der schroffen Töne auch sehr fruchtbare Diskussionen ergeben, an deren Ende hin und wieder ein Konsens zustande kam. Neuerdings setzen sich sogar einige Mitglieder für einen gruppenübergreifenden Dialog ein und verbinden die „Gegner“ miteinander. Bleibt zu hoffen, dass sich die virtuellen Kontakte baldestmöglich in reale Kontakte verwandeln, damit der dringend nötige Dialog genau dort stattfindet, wo er stattfinden muss: Bei den Andersdenkenden, die beide Seiten so vehement verteidigen.

Das Problem mit den Telegram-Gruppen

15.02.2022 – Gunnar Kaiser

Über einen langen Zeitraum habe ich mit dem Kopf geschüttelt, wenn ich gelesen habe, die Telegram-Gruppen seien lediglich Treffpunkte für Hetzer, Schwurbler und Verschwörungstheoretiker. Als Generalisierung lehne ich dieses Statement nach wie vor ab, denn es ist schlicht und ergreifend falsch. Doch nach etlichen Monaten, die ich selbst in solchen Chats verbracht habe, kann ich diese Haltung nachvollziehen. Das heißt nicht, dass ich sie durchweg teile, aber auch mir sind eine ganze Reihe von Problemen aufgefallen, die mich immer öfter dazu bewegt haben, solche Chatgruppen zu verlassen. Im Folgenden will ich einige dieser Probleme ansprechen.

Von Tarek Schwarz

Problem Nr. 1 – Die Informationsmasse und -qualität

Es dauerte keine zwei Wochen, bis jede Chatgruppen, in der ich Mitglied gewesen bin, mit Informationen geflutet wurde, die ein einzelner Mensch unmöglich nachverfolgen und prüfen kann. Bei mir verhielt es sich in regelmäßigen Abständen so: Nach wenigen (und sehr erholsamen) Stunden des Smartphoneverzichts, öffnete ich den Nachrichtendienst meiner Wahl und sah mich mit 495 ungelesenen Nachrichten konfrontiert – alle „unglaublich wichtig“.

Jedes Mitglied hat 24/7 die Möglichkeit, jede erdenkliche Information ungehindert in den Gruppenchat zu stellen. Das kann im Falle sich überschlagender Ereignisse und wichtiger Entschlüsse sehr hilfreich sein, da auf diese Weise viele Menschen unmittelbaren Zugang zu wichtigen Informationen erhalten, ohne lange danach suchen zu müssen. Wenn Verordnungen und Beschlüsse sich im Eilzugtempo ändern und keiner mehr weiß, welcher Firlefanz gerade aktuell ist, kann es helfen, Gruppenmitglieder zu haben, die bereits informiert sind und den Rest der Gruppe kurz und knapp unterrichten.

Das Problem beginnt dann, wenn ausnahmslos jede Information in einen solchen Chat geworfen und von dort aus verbreitet wird. Werden sämtliche Screenshots, Grafiken und Links als Informationen von höchster Wichtigkeit präsentiert – und fehlt demjenigen, der die Information teilt, das Rüstzeug, um den Inhalt dieser Nachricht adäquat zu beurteilen, dann wächst das, was einst ein gut überschaubarer Platz für praxisbezogene Informationen gewesen ist, zu einem Pulk aus tausendundeinem Link, die ohne Differenzierung in sämtliche virtuellen Himmelsrichtungen verteilt werden. Daher fällt es den Gegnern solcher Chats auch sehr leicht, automatisch von „Fake News“ zu sprechen. Es passiert tatsächlich sehr schnell, dass eine Information falsch verstanden und mit diesem Fehlverständnis verbreitet wird.

Dahinter steckt allerdings in den seltensten Fällen eine böse Absicht, sondern eine zutiefst menschliche Fehleranfälligkeit, der man nur mit Sorgfalt begegnen kann. Wenn aber wichtige, praktisch relevante Informationen von einer Lawine der Belanglosigkeit verschüttet werden, wird es für den Einzelnen schwer, die gehaltvollen und relevanten Informationen von den weniger gehaltvollen zu unterscheiden.

Ein gut ausgebildeter Journalist lernt schnell, eine wichtige von einer unwichtigen Information zu trennen. Im besten Fall steht für ihn die Informationsqualität vor der Aktualität. Das heißt, er nimmt sich für seine Recherchen genügend Zeit und wählt sorgfältig aus, welche Information er einbezieht, achtet dabei auf Ausgewogenheit und distanziert sich vom Thema, wodurch er Neutralität wahren kann. Dass dieses recht idealistische Verständnis von Journalismus mittlerweile antiquiert anmutet, hängt auch mit Digitalisierung, Skandalisierung und Effekthascherei zusammen.

Telegramchats bestehen aus einer losen, teilanonymen Gruppe, deren primäres Interesse häufig nicht die Information selbst ist. Eher sind die Mitglieder – so scheint es – auf den sekundären Nutzen der Information ausgerichtet: Sie benutzen sie als Zange, um ihr emotionales Ventil zu lockern.

2. Problem: Der Chat als Abladestation für gestaute Gefühle

Ich gehe konform mit der Ansicht, dass Corona nicht das Urproblem ist, sondern ein Stellvertreter. Ein Abladeplatz für frühere narzisstische Traumata und gestaute Emotionen. Wer sich für die psychologischen Hintergründe interessiert, dem sei das KaiserTV-Gespräch mit dem Psychiater und Psychotherapeuten Hans-Joachim Maaz empfohlen, ebenso wie Maaz‘ Buch „Corona Angst“.

Dieses Phänomen betrifft alle Seiten. Der Maßnahmenbefürworter sieht bspw. in der Sündenbockerzählung unterbewusst eine Chance, seine frühere Wut zu veräußern. Dadurch empfindet er sie als berechtigt, kann sie von sich selbst fernhalten und kommt so um seinen früheren Leidensdruck herum. Der Maßnahmengegner tut dasselbe, wenn er sich über „die Idioten“ aufregt, die immer noch mitmachen oder an der Macht sind und deren Entscheidungen er nicht beeinflussen kann. Die Frage nach der Richtigkeit des Inhalts ist der Ventilwirkung dabei stets nachgestellt. Kurz: Was dem einen der „Covidiot“, ist dem anderen das „Schlafschaf“.

Das Abwehrprinzip dahinter ist identisch und findet sich deshalb auch in den Telegramchats wieder. Allzu oft kamen zu den Links persönliche Einschätzungen der Schreiber hinzu, aus denen ich herauslesen konnte, dass sie die „Ventilwirkung“ des Chats wesentlich dringender benötigten als die eigentliche Information. Manchmal fand sich eine ganze Gruppe von Empörten, die ihre Unzufriedenheit, ihren Frust und ihre Hilflosigkeit so lange kundtaten, bis der gesamte Chat damit beschäftigt war, entweder darüber zu streiten oder die Wogen zu glätten.

Ich verurteile dieses Verhalten nicht. In Extremsituationen passen sich viele Menschen durch extremes Verhalten an. Wenn rundherum alles bröckelt, das bislang der narzisstischen Abwehr diente, sind viele Menschen auf ein solches Ventil angewiesen. Mir ist es allemal lieber, ein Betroffener lebt seine Aggression im Chat aus, als dass er auf einer Demonstration oder in den eigenen vier Wänden zum Gewalttäter wird.

Nichtsdestotrotz löste diese Entwicklung in mir das Bedürfnis nach Rückzug aus, denn so interessant die Streitigkeiten und Gefühlsausbrüche auch waren, so waren sie mir doch ein Dorn im Auge, da sie die Gruppe nachhaltig geschädigt haben.

3. Problem: Konflikte – zwischen Reform und Revolution

Es ist recht einfach und sehr menschlich: Wo viele Leute zusammenkommen, gibt es widerstreitende Ansichten und Interessen. Daraus entstehen naturgemäß und unvermeidlich Konflikte – auch in Telegramchats. Alle Gruppenmitglieder stehen in einer wechselseitigen Beziehung zueinander, und trotzdem fehlen wichtige Kommunikationskanäle. Mimik, Gestik, Proxemik, Haptik und Spontanität fallen weg. Die Möglichkeiten, eine Nachricht falsch zu interpretieren, vervielfachen sich – und damit auch das Konfliktpotenzial.

Allhoff und Allhoff (2010) nennen drei Konfliktformen, in denen sich Einzelne oder Gruppe verfangen können – ganz gleich, ob real oder virtuell:

1. Innerseelische Konflikte
2. Konflikte zwischen Menschen
3. Systemkonflikte (Konflikte zwischen Menschen und organisatorischen Einheiten)

Überdies teilen sie zwischenmenschliche Konflikte noch einmal in Sach- und Beziehungskonflikte ein.

a) Sachkonflikte sind Weg- und Zielkonflikte. Der Wegkonflikt fragt danach, wie ein bestimmtes Ziel erreicht werden soll, der Sachkonflikt stellt die Frage, was man erreichen will.

b) Beziehungskonflikte haben ihren Ursprung in der Annahme, nicht akzeptiert und wertgeschätzt zu sein. (Allhoff & Allhoff 2010, 211)

Ich halte es für wahrscheinlich, dass alle drei Konfliktformen in den Telegramgruppen vorkommen und vielleicht nicht einmal klar voneinander getrennt werden können. Wie oben beschrieben, benötigen Menschen mit einem innerseelischen Konflikt die Möglichkeit, ihn mithilfe eines passenden Stellvertreters abzureagieren. Auch sind Selbstwert und Selbstreflexion von großer Bedeutung, wenn es um Konfliktlösung geht. Da es keinen Menschen ohne innerseelischen Konflikt gibt und kaum jemand von Natur aus mit einem starken Selbstwert trumpfen kann, spielen all diese Faktoren unweigerlich eine Rolle beim Durchleben und Lösen von Auseinandersetzungen. Aber auch Weg- und Zielkonflikte haben sich in den Chats besonders hervorgetan.

Weg- und Zielkonflikt

Im Laufe der Zeit kristallisierten sich zwei geistige Strömungen heraus, deren Weg- und Zielvorstellung so unterschiedlich war, dass sie einander oft feindlich begegneten: Die eine Strömung strebte „Reformen“ an und die andere bewarb ohne Umschweife einen „Umsturz“. Die eine betrachtete die aktuelle Krise als Chance, entweder zu alten oder zu neuen Werten zurückzukehren, bewusster zu leben und sich zu besinnen. Die andere bevorzugte den verbalen Kampf gegen „das System“, „die Politiker“ oder „die Konzerne“, derer „man“ sich entledigen müsse, um in Zukunft „wirklich frei“ zu sein. Reformdenken kollidierte also mit Revolutionsgelüsten und viel zu oft verlor sich die Gruppe in Anklagen, Schuldzuweisungen und aggressiver Abschirmung gegeneinander.

Von der gesamten Gruppe zu sprechen, ist jedoch falsch, denn es waren zumeist einzelne Mitglieder, die sich zu Sprachrohren der einen oder anderen Strömung ernannten und im Pluralis majestatis sprachen: „Wir“ müssen doch X und Y tun, um bei Z zu landen! Der Großteil der Gruppenmitglieder verharrte hingegen in der Rolle des stillen Beobachters.

Die Frage nach dem „Wie?“ führte beinahe täglich zu Grundsatzdiskussionen und zur Eröffnung von Nebenkriegsschauplätzen:

„Was? Du trägst auf einer Demo eine Maske? Was willst Du dann eigentlich dort, wenn Du Dich eh nur unterordnest? Geh doch gleich zu den Schafen auf die Wiese!“

Sehr häufig kam auch der Kommentar:

„Dass Du das so siehst, finde ich sehr schade. Ich dachte, wir ziehen hier alle an einem Strang.“

In Ermangelung eines besseren Ausdrucks nenne ich dieses Phänomen „Uniformitätsillusion“. In beiden Fällen ist die Vorstellung am Werk, es müsse so etwas wie einen idealtypischen Demonstranten geben. Erst, wer eine Reihe von Kriterien erfüllt (die niemand festgelegt hat), darf sich als „geweiht“ betrachten und guten Gewissens auf die Straße gehen. Oder anders: Erst, wer ausnahmslos allem zustimmt, das einem Mitglied als wichtig erscheint, zieht „am selben Strang“.

Sobald diese Illusion zerfällt, sobald also die eingebildete „Vollkommenheit“ der Gruppe verschwindet, kann auch der Idealismus eines „geschlossenen Widerstandes“ nur noch schwer gehalten werden. Folglich verfangen sich immer mehr Mitglieder in immer längeren Grundsatzdiskussionen darüber, wer unter welchen Voraussetzungen überhaupt ein geradliniger Protestler sei und welche Ideallösung es brauche, um „am Ende“ besser dazustehen. Nicht selten werden Umsturzfantasien formuliert, die einem gemäßigten und friedlichen Protest widersprechen:

„Solange Ihr ein System unterstützt, das von Politschweinen angeführt wird, die uns alle versklaven wollen, solange Ihr noch arbeiten geht und Euch damit herausredet, Ihr hättet zu viel zu verlieren, solange braucht Ihr auch nicht auf die Straße zu gehen. Das Problem muss an der Wurzel angepackt werden!“

Diese Haltung hat rein gar nichts mit konstruktivem Protest zu tun. Sie ist mehr Abwehr als alles andere und zeigt deutlich die Ohnmacht und das Wunschdenken, das entsteht, sobald die Uniformitätsillusion zerstört ist. Der Subtext dieser Nachricht könnte lauten: „Ich dachte, ich bin hier unter Leuten, die das genauso sehen, weil sie denselben Weitblick haben, wie ich – aber ich habe mich wohl geirrt und muss denen das jetzt nochmal erklären!“

Uniformität vs. Natürliche Unterschiede

Diese Ohnmacht und Abwehr, die ich im Chat sehr häufig erlebte, ist ein Hinweis auf ein essenzielles Missverständnis über die Natur starker Gruppen: Natürlich benötigen sie eine gewisse Organisation und ein übergeordnetes Ziel. Aber eine Gruppe, deren Uniformitätszwang so groß ist, dass Andersdenkende sich für ihre Ansichten rechtfertigen und womöglich erklären müssen, wird früher oder später zersplittern. Starke, resiliente Gruppen schaffen es, ein gemeinsames Ziel anzusteuern, ohne das Individuum allzu weit einzuschränken. Soll heißen, Protestgruppen sind dann effektiv, wenn sie die Unterschiede innerhalb der Gruppe als natürliche Gegebenheit akzeptieren und trotzdem gemeinsam für ein übergeordnetes Ziel auf die Straße gehen. Wenn die Mitglieder dieser Gruppe sich wirklich für Freiheit, Gleichbehandlung, Toleranz und Dialog einsetzen, führt kein Weg daran vorbei, diese Begriffe als Werte zu verstehen, die zuerst individuell und schließlich in der Gruppe kultiviert werden müssen. Diese differenzierte Grundhaltung hülfe im Übrigen auch dabei, mit der „Gegenseite“ nachsichtiger umzugehen, weil es sich bei „denen“ kein bisschen anders verhält. Auch Geimpfte und Maßnahmenbefürworter sind keine homogene, uniforme Masse, deren Mitglieder nichts anderes im Kopf haben, als aus demselben Halse den Teufel anzuklagen.

4. Problem: Datenschutz

Auch, wenn man in Zeiten von WhatsApp, Telegram, Facebook und Co. ausgiebig darüber streiten kann, ob es so etwas wie digitale Privatsphäre überhaupt gibt, erachte ich einen privaten Chatraum als das virtuelle Pendant zu einem vertraulichen Gespräch in natura. Ich gehe also davon aus, dass die Information, die ich mit einem Menschen teile, auch bei ihm bleibt. Sollte mein Gesprächspartner den Inhalt teilen wollen, darf er mich freundlich fragen, ob ich ihm das gestatte. Wenn er aber unerlaubt von unserem Gespräch ein Bildschirmfoto macht, auf dem mein vollständiger Name inklusive Telefonnummer zu sehen ist, und dieses Foto dann in eine Gruppe mit über hundert Mitgliedern stellt – dann werde ich mir zukünftig zweimal überlegen, ob ich diesem Kollegen schreibe. Leider habe ich in vielen Chatgruppen des Öfteren erlebt, wie das, was ich als „virtuelle Privatsphäre“ verstehe, vorsätzlich ignoriert wurde. Ohne zu zögern wurden Screenshots von Privatgesprächen in großen Gruppen geteilt, um nichts anderes zu tun als Person und Inhalt lächerlich zu machen. Das widerspricht gänzlich meinem Ethos und befeuert die Spaltung, anstatt sie zu verringern. Zugegeben, auch diese negative Erfahrung ging auf das Engagement vereinzelter Mitglieder zurück. Von der gesamten Gruppe darf man also auch hier nicht sprechen. Aber ich erachte es trotzdem als Problem und Widerspruch, wenn sich ein Mensch nach außen gegen Spaltung und die Überwachungspläne des Staates wehrt, Facebook ablehnt und digitale Impfpässe verneint, während er kein Problem damit hat, persönliche Informationen ungefragt mit einer großen Zahl unbekannter Gruppenmitglieder zu teilen – noch dazu, um jemanden anzuschwärzen.

Zusammenkunft

Der Fairness halber muss ich sagen, dass es auch Gruppen gibt, in denen aggressives und anderweitig zerstörerisches Verhalten sehr gut durch Dialog reguliert wird. In den wenigen Chats, denen ich nach wie vor angehöre, haben sich im Zuge der schroffen Töne auch sehr fruchtbare Diskussionen ergeben, an deren Ende hin und wieder ein Konsens zustande kam. Neuerdings setzen sich sogar einige Mitglieder für einen gruppenübergreifenden Dialog ein und verbinden die „Gegner“ miteinander. Bleibt zu hoffen, dass sich die virtuellen Kontakte baldestmöglich in reale Kontakte verwandeln, damit der dringend nötige Dialog genau dort stattfindet, wo er stattfinden muss: Bei den Andersdenkenden, die beide Seiten so vehement verteidigen.

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